Paris, Théâtre des Champs-Élysées, Große Stimmen - Sopranist - Countertenor - neue Popstars, IOCO Kritik, 14.01.2023

Paris, Théâtre des Champs-Élysées, Große Stimmen - Sopranist - Countertenor - neue Popstars, IOCO Kritik, 14.01.2023

Théâtre des Champs-Élysées - Paris

Théâtre des Champs-Élysées, Paris © wikimedia commons
Théâtre des Champs-Élysées, Paris © wikimedia commons

LES GRANDES VOIX / LES GRANDS SOLISTES/ DIE GROSSEN STIMMEN

  • Georg Friedrich Händel: GLORIA IN EXCELSIS DEO, Kantate HWV deest (1706)
  • Antonio Vivaldi: VIOLIN-KONZERT, RV 208, “Il Grosso Mogul” (1710), VOS INVITO, BARBARAE FACIES, Motette RV 811 (1731)
  • Giovanni Battista Pergolesi: STABAT MATER (1736)

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von Peter Michael Peters

STABAT MATER – EIN GÖTTLICHES GEDICHT DER SCHMERZEN!

SEQUENTIA

  • Stabat Mater dolorosa
  • Iuxta crucem lacrimosa,
  • dum pendebat Filius.  (Auszug / 1. Strophe)

Ein musikalischer Meteor verlöscht…

Das Stabat Mater ist das bekannteste Werk von Giovanni Battista Pergolesi (1710-1736). Als Auftragswerk wählte der Komponist weder den Text noch die vokale und instrumentale Wirkung. Das Stabat Mater gehört im Wesentlichen der geistlichen Musik an, aber das von Pergolesi ist jedoch vom Stil der Oper beeinflusst, einer weltlichen Gattung mit perfekter Vollendung. Ein Paradoxon, das den Triumph des Werks nicht verhinderte! Vielleicht hatte es sogar dazu beigetragen? Letztes Werk von Pergolesi, das Stabat Mater wurde in einem Kloster bei Neapel vollendet.

G.B. Pergolesi - Stabat Mater - "Vidit suum dulcem natum" mit Bruno de Sà youtube Bruno de Sà [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]

Das Stabat Mater stammt aus dem Jahre 1736. Pergolesi war gerade 26 Jahre alt und wurde gerade im Vorjahr als stellvertretender Chorleiter an die Königliche Kapelle von Neapel berufen. Der Erfolg scheint ihm also entgegen zu strahlen trotz einer schweren Lungenkrankheit, die ihn seit seiner Kindheit plagte. Die neapolitanische Bruderschaft der Cavalieri di San Luigi di Palazzo gab daraufhin das Stabat Mater bei ihm in Auftrag, aber einige Musikwissenschaftler behaupten auch, Dominico Marzio IV. Carafa, Herzog von Maddaloni (1706-1748) Beschützer von Pergolesi, sei der Auftraggeber. Der Komponist begann das Stabat Mater in Neapel an zu schreiben, bevor er sie in einem etwa 20 km entfernten Kapuzinerkloster fertigstellte  und zwar in der Nähe von Pouzzoles. Er wird gerade noch Zeit haben um die letzten Noten zu setzen, bevor der Tod ihn erreichte und seine glänzende Karriere brutal unterbrach. Schließlich aber überwand seine schwererkrankte Lunge sein außergewöhnliches Talent! Noch wenige Tage vor seinem Tod bestimmte Pergolesi einen Vermächtnisnehmer für diese Partitur: Francesco Feo (1691-1761), einer seiner ersten wichtigen Kompositionslehrer. Eine Geste der Dankbarkeit eines Schülers an seinen Lehrer oder der Versuch dafür zu sorgen, dass die Partitur nicht verloren geht?

Das Stabat Mater beschwört den Schmerz einer Mutter angesichts der qualvollen Agonie ihres Sohnes! Die Mutter der Schmerzen stand. Dies ist die literarische Übersetzung der Worte Stabat Mater Dolorosa, mit denen der Text beginnt. Diese Mutter ist Maria. In der christlichen Religion nimmt sie mit großem Mut an dem Tod ihres an das Kreuz genagelten Sohnes Jesus bei. Der lateinische Text von Stabat Mater stammt aus dem 13. Jahrhundert und wird allgemein dem Franziskaner Fra Jacopone da Todi (etwa 1230-1306) zugeschrieben. In 10 Strophen zu je 6 Versen beschwört es nacheinander das Mitleid der Jungfrau mit ihrem Sohn Jesus und auch das des Gläubigen, der mit ihr durch die Kraft des Gebets schließlich auch die Hoffnung herauf beschwört. Aber durch Maria sind es alle, die mir dem Leiden eines Kindes, ja sogar mit seinem Tod konfrontiert sind. Kein Wunder, dass  Stabat Mater im Laufe der Jahrhunderte so erfolgreich war.

Die Hingabe an das Leiden der Jungfrau Maria ist in Italien bereits seit dem 13. Jahrhundert präsent, insbesondere dank des Ordens der Seviten, die sich 1223 in Florenz niederließen. Eine offizielle Liste mit 7 Schmerzen erscheint zwischen dem 14. Und 15. Jahrhundert und wurde wahrscheinlich nach dem Konzil von Trient besonders am Karfreitag als Hymne verwendet. Papst Benedikt XIII. (1649-1730) beschloss dann 1727 sie wieder bei der Messe von unserer Dame der 7 Schmerzen einzusetzen. Diese Feier findet heute am 15. September statt; in der Zeit von Pergolesi fand sie während der Fastenzeit statt.

Wie seine beiden Salve Regina knüpft auch das Stabat Mater von Pergolesi an die im Barock sehr beliebten „kleinen Motetten“ an. Im Gegensatz zur „Großen Motette“ vom Typ Versailles weist die „Kleine“ eine eingeschränktere Wirksamkeit und Dimension auf. So enthält Pergolesis Partitur keine Ouvertüre, sondern nur eine instrumentale Einleitung von einigen Takten. Die Sänger sind auf 2 Solisten (Sopran und Alt) reduziert und das Orchester auf 2 Stimmen aus Violinen, Bratschen und einem Basso continuo. Aber diese Orchester-Besetzung wurde dem Komponisten sicherlich auch aufgezwungen. Tatsächlich wurde das Stabat Mater wahrscheinlich als Ersatz für Alessandro Scarlattis (1660-1725) Werk geschrieben! Pergolesi orientierte sich also an dem Effektiv dieses Komponisten und teilt wie er sein Werk in Nummern auf. Dieses Prinzip, übernommen aus den in dieser Zeit sehr beliebten italienischen Kantaten des 18. Jahrhunderts, führt hier zu 7 Duetten und 5 Solo-Arien.

Von der Oper beeinflusste geistliche Musik…

Wir kennen das berühmte Anfangsduo! Seinen Erfolg verdankt es seinem langsamen Anstieg zum Diskant, geschmückt mit Dissonanzen, die durch die Verzögerungen erreicht wird und die Verlängerung der Note, die dann eine Reibung verursacht, unterstützt von einem motorischen Bass: Der die Unausweichlichkeit erreicht und unterstreicht! Die Wirkung ist überaus ergreifend und sehr effektiv. Dieses Schreibprinzip wird für die Stimmen mehrmals wiederholt, ohne auch nur die  zusätzliche instrumentale Einleitung mitzuzählen.

Aber wenn die erste Nummer den geistlichen Charakter des Werkes gut zum Ausdruck bringt, könnten auch andere in einer Oper vorkommen. So tragen z. B. die Arien Cujus animam oder Quae moerebat  große dramatische Spannung in einem rasanten  Tempo dazu bei. Viel melancholischer, die Arie Vidit suum dulcem und dennoch von starkem theatralischen Einfluss durchdrungen. Der harmonische Reichtum seiner instrumentalen Begleitung trägt dazu bei, es noch ausdruckstärker zu machen.

Im Gegensatz zur Oper wird die geistliche Musik ohne Bühnenbild und Kostüm aufgeführt. Auch gibt es in Stabat Mater keine atemlosen Abenteuer, dieses Stück ist im Gegenteil per Definition ein „Standbild“. Es gilt also andere attraktive Tricks zu finden, um die Aufmerksamkeit des Zuhörers zu erobern. Pergolesi wird mit Kontrasten spielen! Er wechselt Duette und Arien ab! Innerhalb eines Duetts ist es nicht ungewöhnlich, dass er die Solisten einzeln einbezieht, bevor er sie dann überlagert wie in dem Duett Inflammatus singen lässt. Er erzeugt auch große Stimmungs-Schwankungen! Die melancholische Arie Eja mater in c-Moll ist somit durch ihre melodischen Konturen und ihr moderates Dreiertakt-Tempo von äußerster Süße durchdrungen. Das Duett Qui est homo atmet dagegen alle erdenklichen Rache-Ideen aus, geboren aus dem Leid einer verzweifelten Mutter und endet mit einem Pro peccatis, das schnell, dunkel und rebellisch klingt, indem die beiden Stimmen exakt gleichzeitig in einer sogenannten Homo-Rhythmik singen. Ein paar Nummern später bringt das Duo Sancta Mater dagegen eine willkommene Aufhellung in E-Dur, kurzzeitig abgeändert durch eine Sequenz in Moll.

Die Vaterschaft vieler Werke, die Pergolesi seit Jahrhunderten zugeschrieben wurden, ist jetzt ein Gegenstand von vielen Zweifeln geworden. Auf „seine“ 9 Messen, 2 sind zweifellos vom Komponisten. Gleiches gilt für die 28 Motetten, von denen nur 7 sicher von seiner Hand stammen, 9 weitere stehen zur Diskussion. Aber im Gegensatz zum Requiem ist das Stabat Mater sein eigenes Werk. Und nicht nur unsere Zeit begeistert sich für diese Musik. Bereits im 18. Jahrhundert zählte  Stabat Mater zu den berühmtesten Stücken seiner Zeit. Sogar der große Johann Sebastian Bach ( 1685-1750) entlehnte ein paar Sätze von ihm für seinen Psalm Nr. 51 BWV 1083 „Tilge, Höchster, meine Sünden“.

Der Schmerz der Jungfrau ist bei allen „gläubigen“ Eltern, die ein Kind verloren haben! Aber die Musik ist es vor allem, die alle diese schweren Leiden nicht nur für die Mitbeteiligten versöhnlich in ein ewiges Meisterwerk verwandelt! Vincenzo Bellini (1801-1835) nannte das Stabat Mater im 19. Jahrhundert „das göttliche Gedicht des Schmerzes“.

Konzert  7. Januar 2023  - Théâtre des Champs-Élysées Paris

Sopranist – die neuen Popstars der klassischen Musik…

Indem wir dabei sind eine Rezension für dieses Konzert zuschreiben, fällt uns eine wahre Anekdote ein: Der große Georg Friedrich Händel (1685-1759) mochte die Kastraten überhaupt nicht, ja man kann sogar sagen dass er sie fast hasste mit ihren unnatürlichen Diva-Allüren. Diese allgewaltigen Persönlichkeiten im damaligen Opernbetrieb konnten schon einen Komponisten zum Wahnsinn bringen. Natürlich kann man einen Kastraten nicht mit den heutigen Countertenören & Co vergleichen, dass fängt schon alleine von der Stimmführung ab. Jedoch auch diese Stimmen von heute bringen wohl eine gewisse Unnatürlichkeit  verursacht durch die Launen der Natur mit! Händel umging diese Naturlaunen radikal, indem er diese kapriziösen „Stimmwunder“ einfach rausschmiss aus seinen Opernproduktion und nur mit Tenören arbeitete: Eine seiner Lieblingsstimmen war wohl die des berühmten  englischen Tenor John Beard (1716-1791). Auch fragen wir uns heute nach dem Konzert: Von woher kommt wohl dieser wahnsinnige Beliebtheitsgrad dieser „Stimmwunder“ im 21. Jahrhundert? Wir geben zu, dass diese Stimmen eine gewisse Schönheit ausstrahlen, aber auch mit Grenzen, denn in den extremen Höhen scheppert es manchmal doch recht ordentlich und klingt äußerst unnatürlich. Wir meinen auch das dennoch diese „Naturlaunen“ beim Publikum eine so gewaltige Anziehungskraft haben: Weil das Phänomen wohl auch eine äußerst geheimnisvolle unterschwellige Neugierigkeit mit allerhand erotischen Phantasien und einer bedingten Skandalsucht seitens des launigen und verwöhnten Publikums ist. Wir z. B. könnten uns eine Interpretation des berühmten Stabat Mater auch vorstellen mit völlig natürlichen schönen Stimmen: Sopran und Tenor oder Alt!

Das Stabat Mater beginnt mit einem ersten Satz, der von einem nüchternen Pathos gekennzeichnet ist, das bald von einem Cujus animam sehr schnell weitergegeben wird. Die instrumentale Verschmitztheit von Quae moerebat ist köstlich und der Austausch der beiden Solisten mit dem Orchester wird noch intensiviert. Einer der besten Momente ist wohl der Fac ut ardeat dank der stilsicheren Reaktion der beiden Solisten aufeinander, manchmal zeitlich und aber auch gegenzeitlich. Es ist eine glühendes Stabat Mater von durchdringender Intensität interpretiert von den inspirierten Instrumentalisten des Orchestre National d’Auvergne und ihrem talentierten französischen Dirigenten Thibault Noally einschließlich der japanischen Cembalistin und Organistin Yoko Nakamura, sowie die zwei Solisten mit einem perfekt komplementären Stimmprofil.

Bruno de Sà - Sopranist © Les Grandes Voix
Bruno de Sà - Sopranist © Les Grandes Voix

Der in Berlin lebende brasilianische Sopranist Bruno de Sà ist einer von den neuen rasch aufsteigende Stars am Himmel der Stimmen-Phänomene: Er fügt seiner gemeißelten Emission eine Palette von Klangfarben hinzu, die von der weißen Stimme bis zu den höchsten Tönen reichen, sowie einer starken Ausdruckskraft und das auch mit vielen gestischen Allüren. Und was ist mit dem italienischen Countertenor Carlo Vistoli, einem jungen aber schon recht etablierten Sänger und auch schon sehr bekannt in Paris? Sein reiches Timbre hat sich in den letzten Jahren weiter vertieft, der mittlere Bereich wurde vollständig geglättet um die bemerkenswerte Geschmeidigkeit zu erzeugen, die ihn in jeder Tonlage auszeichnet! Seine unfehlbare Technik ermöglicht es ihm, gleichzeitig eine intensive Stabilität in tiefen Lagen zu haben und aber auch harmonische Obertöne zu produzieren, sowie schnelle und einwandfreie Höhenaufstiege zu gewährleisten.

Gemeinsam sind die beiden Sänger voller Hingabe und Aufmerksamkeit füreinander und bilden so ein aufrichtiges Duo in einer Harmonie von Flüssigkeit und Genauigkeit. Die beiden Stimmen werden somit überlagert, obwohl der Zuhörer trotzt aller wunderschönen Harmonien das Fehlen einer besonderen starken Wirkung aufgrund ihres Kontrasts bedauert.

Der erste Teil des Konzert vor Stabat Mater ist mit Werken von Händel und Antonio Vivaldi (1678-1741) ergänzt: Das Gloria in Excelsis von Händel ist in einem seltsam eigenen Stil von De Sà funkelnd gesungen. Es ist mit viel Zuversicht, dass er die ersten Noten einprägt und in einem klaren Ton projiziert, der mit ernsteren Nuancen vermischt wird. Der Sopranist spielt mit einem sehr bemerkenswertem Können, einer Strenge und Beherrschung in seiner Stimme, die sich an diesem Abend durch Kraft, Festigkeit und Flexibilität auszeichnet. Die Gesangslinie ist präzise, mühelos und so zart wie auch wirkungsvoll.

Carlo Vistoli - Countertenor © Les Grandes Voix
Carlo Vistoli - Countertenor © Les Grandes Voix

Das Orchestre National d‘Auvergne bringt das Publikum in einem äußerst rasanten Wirbelwind in die Schönheit der Barockmusik mit dem berühmten Violin-Konzert „Il grosso Mogul“ von Vivaldi ein. Noally führt die Musiker mit den wirkungsvollen Geigen in einem spannungsvollem Atem gefolgt von anderen Instrumenten und dem Cembalo. Alle folgen ihm in gleichmäßigem Tempo, tadellos in Strenge und Festigkeit und in fast narrensicherer starrer Koordination. Aber in der Starrheit liegt auch eine gewisse Verfeinerung, Verfeinerung in der Präzision und auch durch den Gebrauch  von teilweise alten Instrumenten der Epoche: Die eine noch größere Verfeinerung hervorhebt, die sonst nicht gehört wird!

Der sympathische Vistoli war am Anfang in seiner Interpretation der Motette Vos invito, barbarae von Vivaldi ein wenig unsicher, gewinnt aber nach und nach an Selbstvertrauen und mit seinen natürlichen Tiefen schmückt er sein wunderschönes Timbre mit warmer Sattheit und unermesslichen Farbtönen. Einziger Nachteil: Es kommt leider vor dass seine Stimme nicht über die Instrumente hinausträgt, denn diese verdecken ihn von Zeit zu Zeit zu sehr!  (PMP/11.01.2023)