Prag, Statni Opera - Staatsoper, BALL IM SAVOY - Paul Abraham, IOCO Kritik, 15.10.2022
BALL IM SAVOY - Operette von Paul Abraham
MUSICA NON GRATA -THE INTERNATIONAL MUSICAL AND CULTURAL PROJECT - PRAG
TOUJOURS L‘AMOUR… TOUJOURS !
von Peter Michael Peters
Eine unbeschwerte Muse übernimmt die Zügel die Prager Staatsoper: Nach 89 Jahren, kehrt Ball im Savoy, eine Operettenrevue des ungarischen Komponisten Paul Abraham (1892-1960), endlich wieder zurück, wo sie 1933 ihre Prager Premiere hatte. Er war der ungekrönte „König der Jazz-Operette“, dessen steile Karriere 1933 durch den Nationalsozialismus beendet wurde. Ball im Savoy verbindet Operette, Oper, Tanz und auch ziemlich anspruchsvolles Schauspiel. Es ist eine Art feministische Initiation, eine Geschichte über ein Mädchen, das für sich und seine Rechte einsteht und sich von einem jungen Mädchen in eine Frau verwandelt.
Ein Stück voller unerwarteter Wendungen, voller Energie und Witz wurde 1932 in Berlin als letzte in einer Reihe der erfolgreichsten Operetten von Abraham komponiert: Viktoria und ihr Husar (1930), Die Blume von Hawaii (1931) und Ball in Savoy. Die Uraufführung fand am 23. Dezember 1932 im Großen Schauspielhaus in Berlin statt. Als Adolf Hitler (1889-1945) jedoch in das Amt des Reichskanzlers aufstieg, wurde das Stück, ebenso wie die übrigen Werk von Abraham deutschlandweit verboten, was den Autor somit zwang aufgrund seiner jüdischen Herkunft aus Deutschland zu fliehen. Er wandte sich zunächst nach Ungarn, seinem Heimatland, ging aber nach Ausbruch des zweiten Weltkrieges weiter nach Paris. Schließlich musste er nach einem mehrmonatigen Aufenthalt in Havanna, Kuba, in die USA auswandern. Der Mann, der in den 1930er Jahren den Spitznamen „König der Jazz-Operette“ trug, verbrachte seine letzten vierzehn Lebensjahre als psychisch kranker Patient in verschiedenen psychiatrischen Anstalten. Trotz der schwierigen Entstehungszeit ist Ball im Savoy ein Werk von großem Humor, Eleganz und Toleranz, das an naive Filmkomödien der Vorkriegszeit erinnert. Diese Operette kann einfach als Eintrittskarte in eine unbeschwerte freiere und schönere Welt verstanden werden und sollte mit allen ihren Themen und Charakteren die ganze Bandbreite einer toleranten Gesellschaft voll präsentieren. Diese Geschichte mit all ihren vielen Aspekten ist eine echte abenteuerliche Reise in eine vergessene nie wiederkehrenden Traumwelt.
BALL IM SAVOY - in der Staatsoper Prag youtube Opera ND a SO [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]
Tanzen am Rande eines Vulkans…
So beschrieb Klaus Waller (*1946), der Autor der Biografie von Paul Abraham, die Atmosphäre in Deutschland zur Zeit der Entstehung von Ball im Savoy. Schon während der Probenzeit erschienen begeisterte Artikel in der Presse, in denen Alfred (1886-1933) und Fritz Rotter (1888-1939) für ihre Absicht gelobt wurden, ein originales Gesamtstück vorzulegen: „Bisher wurden ein paar Schlager aus Amerika ausgeborgt und von diversen deutschen Komponisten zu einem musikalischen Wirrwarr zusammengemischt. Nun aber wird erstmals einem Komponisten der ersehnte Platz eingeräumt für ein komplettes Stück.“
Ball im Savoy wurde im Rahmen eines Festabends des Berliner Presseverbandes (1937 von den Nationalsozialisten aufgelöst) uraufgeführt. „Viele großartige Aufführungen wurden im Großen Schauspielhaus aufgeführt, aber keine war so großartig wie diese,“ war die erste Reaktion eines Berliner Kritikers. „Heute wurde das Große Schauspielhaus von der Operette erobert. Die Uraufführung eines neuen Werks des Trio Abraham-Beda-Grünwald war eine künstlerische und kommerzielle Sensation. Auch bei dem vollbesetzten Großen Schauspielhaus war die oberste Gesellschaftsschicht voll anwesend mit Kanzler General Kurt von Schleicher (1882-1934) und Konsorten in der ersten Loge auf der linken Seite.“
Die Kritiker lobten das Libretto, das durch „überschwängliche unfehlbare Musik“ aufgewertet wurde. Max Marschalk (1863-1940) schrieb: „Paul Abraham hat sich einmal mehr als der erfindungsreichste Komponist der Gegenwart erwiesen. Er ist enorm einfallsreich, lässt sich vom zeitgenössischen Tanz inspirieren, kultiviert aber auch das Exotische und auch Anklänge an nationale Elemente.“ Dass das Theater und die Brüder Rotter auf lange Zeit ausgesorgt hätten, würde sich aber völlig als falsch erweisen! Obwohl die Operette ein enormer Erfolg war und die Brüder Rotter hofften so, dass die Produktion, die auch von Abraham selbst großzügig gesponsert worden sein soll, ihre finanzielle Notlage lösen würde. Aber jedoch die Zukunft der Impresarios und des Komponisten gleichermaßen wurden von politischen Kräften bestimmt, gegen die sie absolut hilflos waren.
Dunkle Wolken ziehen auf…
„Die Rotters jeden Abend im Großen Schauspielhaus – jeden Abend Ball im Savoy, jeden Abend dirigiert der Komponist sein melodisch-verpacktes Werk“, wie es in einem Zeitungsartikel vom 10. Januar 1933 hieß. Doch ebenso so schnell wie Abrahams Aufstieg zum Ruhm war sein Untergang innerhalb weniger Wochen Anfang 1933. Berlin, ein lebhaftes Zentrum für Musik, Film und Theater, verwandelte sich abrupt in eine Stadt, deren Straßen unter der Kontrolle von SA-Paramilitärs standen, provozierende Schläger schlugen alles brutal nieder und belästigten die friedlichen Einwohner der Stadt. „Es ist in der Tat erschreckend, wie offiziell sanktionierte Gewalttaten und Menschenrechtsverletzungen, Heuchelei und barbarische Ideen von Tag zu Tag regierten“, schrieb Anfang 1933 der Philologe Victor Klemperer (1881-1960), ein Cousin des Dirigenten Otto Klemperer (1885-1973), in sein Tagebuch, der Deutschland noch im selben Jahr verließ.
Ball im Savoy war ein so großer Erfolg, dass es sicher schien, dass die Operette zahlreiche Aufführungen bekommen und Gewinne abwerfen würde. Wäre die Situation in Deutschland anders gewesen, hätten die Brüder Rotter vielleicht ihre Schulden getilgt, doch Mitte Januar 1933 wurden sie für zahlungsunfähig erklärt. Am 28. Januar trat Kanzler von Schleicher, der einige Wochen zuvor die Premiere von Abrahams Operette genossen hatte, zurück. Drei Tage später übernahm Hitler den Posten des Reichskanzlers. Am 30. Juni 1934 wurde Schleicher während der Nacht der langen Messer (auch als Röhm-Putsch bekannt) ermordet.
Wie viele andere in Deutschland weigerte sich Abraham, die drohende Katastrophe zu akzeptieren, die sich am Horizont abzeichnetet und spielte die Drohung angeblich herunter: „Sie werden doch keinen Krieg gegen die Operette führen!“ Bis er eines Tages am Diensteingang des Theaters von einer Gruppe nationalsozialistischer „Ordnungswächter“ tätlich angegriffen wurde. Als Abrahams Freund, der Schriftsteller und Filmproduzent André (Andor) Zsoldos (1893-1976) erinnerte sich später und fügte hinzu, dass der Komponist nach dem Vorfall, anfing Symptome einer Neuropsychose zu zeigen. Diese letzte Vorstellung von Ball im Savoy im Großen Schauspielhaus in Berlin fand am 2. April 1933 statt. Endlich befolgte Abraham den Rat, Deutschland zu verlassen! Er verabschiedete sich schweren Herzens. Der Filmregisseur Geza von Cziffra (1900-1989) erinnerte sich später an ein Gespräch mit dem Komponisten bevor er Berlin für immer verließ. „Ich wollte in dieser Stadt sterben! Rief Abraham. „Du kannst immer noch, Paul. Wenn dieser Wahnsinn vorbei ist, kannst du zurückkommen“, antwortete Cziffra. „Aber warum muss ich gehen? Nur weil ich beschnitten bin?“ Klagte Abraham.
Am 22. Januar 1933 verließen die Brüder Rotter überstürzt Deutschland. Offensichtlich von der Vorsehung geleitet, hatten sie zuvor einiges Vermögen in die Schweiz überführt und das Liechtensteiner Bürgerrecht beantragt, das ihnen 1931 ordnungsgemäß verliehen worden war. Die Rotters wähnten sich in Liechtenstein in Sicherheit, doch die Nazis machten unerbittlich Jagd auf sie. Am 5. April 1933 starben Alfred Rotter und seine Frau bei einem Entführungsversuch, als ihr Auto bei einer Verfolgungsjagd in der Nähe des hochalpinen Dorfes Gaflei in einen Abgrund stürzte. Fritz Rotter gelang die Flucht nach Frankreich, doch wurde er im Juli 1939 wegen Besitzes eines ungedeckten Schecks verhaftet und in Colmar inhaftiert, wo er bald starb.
Im Jahre 1934 benannten die Nationalsozialisten das Große Schauspielhaus in Theater des Volkes um. Im Laufe des Zweiten Weltkriegs wurde das Gebäude schwer beschädigt, jedoch nach dem Krieg wurde es repariert und in Friedrichstadt-Palast umgenannt. Anschließend wurde der Veranstaltungsort für Varietés Shows genutzt und diente ab 1972 als Drehort für die beliebte DDR-Fernsehsendung Ein Kessel Buntes. Das baufällige Gebäude wurde 1980 geschlossen und abgerissen. Das 1984 eröffnete neue Friedrichstadt-Palast befindet sich in der Friedrichstrasse 107.
Ein feines Libretto als Fundament des Erfolgs
Der in Wien geborene österreichische Autor Alfred Grünwald (1884-1951) war ungarischer Abstammung. Bevor er sich dem Schreiben von Librettos zuwandte, arbeitete er an verschiedenen Theatern als Komparse und Chorsänger, war bei einer Theateragentur angestellt und schrieb Kritiken.
Sein literarisches Talent brachte er in kabarettistischen Sketchen und Operetten-Parodien zur Geltung. Grünwald schuf Librettos für Operetten zahlreicher Komponisten, darunter Leo Ascher (1880-1942), Edmund Eysler (1885-1940), Leo Fall (1873-1925), Emmerich Kalman (1882-1953 / Gräfin Mariza / 1924), Franz Lehar (1870-1948 / Die ideale Gattin / 1913), Oscar Straus (1870-1954 / Der letzte Walzer / 1920) und Robert Stolz (1880-1975 / Venus in Seide / 1932). Im Zuge des Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich im Jahre 1938 floh er nach Paris und emigrierte zwei Jahre später in die USA.
Fritz Löhner (1883-1942) wurde als Bedrich Löwy in Wildenschwert (heute Usti nad Orlici, Tschechische Republik), Böhmen, damals ein Kronland innerhalb der österreichisch-ungarischen Monarchie, geboren. Eine verkürzte Version seines tschechischen Vornamens wird einen Teil seines Künstlernamen bilden: Löhner-Beda. Er, Grünwald als Co-Librettist und Abraham als Komponist bildeten ein einzigartiges mitteleuropäisches Kreativ-Team. Nach einer rechtswissenschaftlichen Promotion an der Wiener Universität war Löhner-Beda als Rechtsanwalt tätig, entschied sich jedoch einige Jahre später für eine Laufbahn als Schriftsteller. Um 1910 begannen Zeitungen und Zeitschriften seine kurzen Artikel, Gedichte, leichte Satiren und Sketche zu veröffentlichen. In den 1920er Jahren war er einer der gefragtesten Lyriker und Kabarettist-Autor. Löhner-Beda schrieb die Librettos für Friederike (1928), Das Land des Lächelns (1929), Giuditta (1934) und andere Operetten von Lehar. 1934 wurde er zum Vizepräsidenten der Österreichischen Gesellschaft der Autoren, Komponisten und Musikverleger ernannt, doch inmitten der zunehmenden antijüdischen Stimmung wurde er bald als angeblicher „Führer der Wiener Zionisten“ abgesetzt. Nach dem Anschluss wurde Löhner-Beda verhaftet und in das Konzentrationslager Dachau deportiert, von wo er aus nach Buchenwald und schließlich am 17. Oktober 1942 nach Monowitz, einem Außenlager von Auschwitz, verlegt wurde. Dort mussten die Häftlinge schwere Zwangsarbeit für den Konzern IG-Farben leisten! Am 4. Dezember desselben Jahres schlugen ihn die Wärter zu Tode, da man davon ausging, dass er nicht hart genug arbeitete.
Schicksale von Abrahams Operettenstars
Die Machtübernahme der Nazis wirkte sich in vielen Fällen auf tragische Weise auch auf das Schicksal anderer Mitarbeiter und Kollegen von Abraham aus. Die ungarische Sopranistin Gitta Alpar (1903-1991), geborene Regina Klopfer, Tochter eines jüdischen Kantors, die als erste die Rolle der Madeleine im Ball im Savoy verkörperte, debütierte 1923 an der Ungarischen Staatsoper Budapest und gastierte bald mit großem Erfolg in Wien, München und Berlin. 1929 trat sie am Neuen Deutschen Theater in Prag als Cherubino in Le nozze di Figaro (1786) von Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791), auf. 1930 begann sie in Operetten aufzutreten und glänzte auf der Bühne und im Film gleichermaßen. 1933 verließ sie Deutschland und lebte danach in mehreren europäischen Ländern bevor sie dann in die USA emigrierte, wo sie bis an ihr Lebensende blieb. Alpar spielte in einer Reihe von Filmen die Hauptrollen, unter anderem als Madeleine in dem österreichisch-ungarischen Musik-Film Ball in Savoy von 1935. Sie starb in Palm Springs, Kalifornien.
Oscar (Oszkar) Denes (1891-1950) startete seine Karriere 1919 im Film und wurde später in der Operette berühmt. In den frühen 1930er Jahren wurden er und seine Frau, die Schauspielerin, Sängerin und Tänzerin Rosy Barsony (1909-1977), geborene Rozsi Sonnenschein, zu Operettenstars in Berlin, wohin sie von Abraham geholt wurden, um in der Produktion seiner Victoria und ihr Husar nach dem gewaltigen Triumph des Stückes in Budapest, aufzutreten. Von Publikum und Kritik bewundert, wurden Denes und Barsony mit dem gefeierten Duo Ginger Rodgers (1911-1995) und Fred Astaire (1899-1987) verglichen. Denes‘ illustre Karriere dauerte leider nicht sehr lange! Nachdem er Deutschland verlassen hatte, trat er weiterhin in Budapest und Wien auf. Seine letzten Auftritte waren in Abrahams Roxy und ihr Wunderteam (1936) und seiner filmischen Adaption. Barsony glänzte in den Hauptrollen von Abrahams Operetten Victoria und ihr Husar und Die Blume von Hawaii und auch als Daisy in Ball im Savoy. Ein Liebling des Berliner Publikums, Barsony war eine temperamentvolle Schauspielerin und Tänzerin, die anderen jüngeren Künstlerinnen als Vorbild diente, einschließlich Marika Rökk (1913-2004). Nachdem sie Berlin verlassen hatte, lebte sie in Trident, Italien, bevor sie nach dem Tod ihres Mannes nach Wien zog. In Österreich trat sie gelegentlich auf der Bühne auf, vor allem bei den Operettenfestspielen in Mörbisch. Barsony starb und wurde in Wien begraben.
BALL IM SAVOY - 6. Oktober 2022 - Staatsoper Prag
Die Operette sollte ein leichtes Vergnügen sein und davon liefert Ball im Savoy reichlich! Aber die neue Produktion in der Staatsoper Prag, Teil eines laufenden tschechisch-deutschen Zyklus MUSICA NON GRATA, die die Werke von Komponisten hervorhebt, die unter dem Totalitarismus gelitten haben, bietet eine überzeugende Demonstration: Dass die Operette auch inhaltlich klug satirisch und unglaublich erfinderisch sein kann. Als Ball im Savoy in Berlin im Jahre 1933 mit begeisterten Kritiken uraufgeführt wurde, war der Komponist Paul Abraham zu Recht als ein Held einer neuen Ära gepriesen worden.
Eine temperamentvolle Hommage an einen vergessenen Komponisten…
Die Geschichte beginnt damit, dass der Marquis Aristide de Faublas und seine Frau Madeleine nach einjähriger Hochzeitsreise nach Nizza zurückkehren, immer noch ineinander verliebt und ihre ewige gegenseitige Hingabe eindeutig bekunden. Aber schnell kommt es zu Komplikationen, als Aristide ein Telegramm von einer alten Freundin, der exotischen Tänzerin Tangolita erhält, die ihn zu einem langversprochenen Abendessen einlädt. Aristide und sein Freund Mustafah Bej, der türkische Attaché, erfinden eine fadenscheinige und trügerische Geschichte, die aber Madeleine und Daisy, ihre aus Amerika zu Besuch gekommene Schwester, sehr schnell durchschauen und somit beschließen sie: Die beiden Männer beim ihrem Rendezvous mit Tangolita auf dem Ball im Hotel Savoy auszuspionieren. Der Marquis landet mit Tangolita in einem Hotelzimmer, Madeleine in einem Nebenzimmer mit Celestine, einem jungen Mann, den sie aus Trotz und Ärger aufgreift. Daisy verliebt sich Hals über Kopf in den verführerischen Mustafah und somit nehmen Fragen nach Tugend und Treue eine Färbung von leichter frivoler Musik und äußerst scharfkantigem Humor an. Ob sich schließlich alles zu einem Happy End auflösen wird?
Untreue ist ein altes Thema in allen Epochen und Kulturen von William Shakespeare (1564-1616) bis Johann Strauss II (1825-1899), aber die Librettisten Grünwald und Löhner-Beda geben ihm in Ball im Savoy eine neue Wendung: Mit starken modernen Frauen, die bereit sind für einen niederschmetternden Kampf der Geschlechter sich einzusetzen. Denken wir nur an Die Fledermaus (1874)-Geschichte von J. Straus II, die ähnlich im Ablauf ist, nur bleibt Rosalinde am Ende doch eine kleine liebe und unterwürfige Frau: Die Epoche will es so! „Auge um Auge, Kuss um Kuss“, erklärt aber Madeleine trotzig, dass sie untreu gewesen sei. Daisy Parker interviewt alle acht Ex-Frauen von Mustafah, bevor sie sich entscheidet, dass er doch ein passender treuer Partner sein wird. Tangolita stolziert wie eine überaus erotische und gefährliche Carmen (1875) über die Bühne, wohl eine Anspielung auf die jetzt verstärkte Musik, die natürlich direkt von Georges Bizet (1838-1875) stammt: An einer Stelle mit einer absichtlich säuerlichen ranzigen Version von „Toreador, en garde…“, die Mustafah dem Orchester entlockt, um nur zu erklären wie er einmal von einem Stier angsterfüllt verscheucht wurde.
Bizet ist nur einer in einem großen Wirbel von vielen Referenzen und Stilen, die von Abraham verwendet werden, den allerdings einige Kritiker als bloßes Zusammennähen eines Pastiche abtaten. Aus zeitgenössischer Sicht klingt die Partitur brillant, ein schillerndes Amalgam aus Klassik, Jazz, Kabarett und einer Vielzahl von Tanz-Rhythmen, farbenfrohen Beschwörungen des Zirkus und den Juke-Boxen. Im Laufe von fast drei Stunden gibt es keine verschwendete Note! Die Musik ist sorgfältig ausgearbeitet um in den Momenten der Traurigkeit und des Verlangens: Zärtliche Liebes- und Sehnsuchts-Arien für die enttäuschte Madeleine werden uns verzaubern. Wir denken nur an die traumhafte sensuelle Arie: Toujours l’amour… Toujours! Diese Melodie ist der Leitfaden des Werkes und erklingt immer wieder: Natürlich gesungen von unserer Heldin, jedoch auch rein orchestral in den verschiedensten Kombinationen von Instrumentalgruppen interpretiert. Es war äußerst faszinierend, wenn ein Instrument die gleiche Arie solo spielte, z.B. die Geige und auch natürlich das Klavier, das dann in einer jazzigen Improvisation genial auftrumpfte. Diese Melodie war und ist auch immer noch ein sehnsüchtiger klingender Ohrwurm, der widerspenstig und auch gleichzeitig angenehm in unserem Innern singt… „Toujours l’amour… Toujours!“ Aber diese Musik erzählt auch von der Liebe zum Mitmenschen… spricht über Toleranz und Respekt und verliert sich in verlorenen Träumen und Illusionen. Honky-Tonk-Musik für Daisy Parkers harte Hintergrundgeschichte, Cocktail-Klavier im Hotel und Sprung-Rhythmen für einen neuen Tanz namens „Das Känguru!“ Und die Songs – einige so fesselnd, dass das Publikum in der Vorstellung zeitweise mitklatschte – wohl ein Verlangen danach , das sie als große Produktions-Nummern verbreitet werden sollen…
Was auch der Regisseur Martin Cicvak bis zur Erschöpfung liefert, indem er ununterbrochene hochenergetische Choreografien von den beiden hochtalentierten Choreografen Laco Cmorej und Silvia Belakova präsentiert. Das entspricht dem Gesamt-Tempo von Cicvak, das viel von Hollywood-Musicals und Screwball-Komedien der 30er und 40er Jahre verdankt. Es passt auch perfekt zu dem bissigen Geschwätz und den witzigen Nebenbemerkungen, wenn der Butler, der an einer Stelle die missliche Lage von Aristide einschätzt und zu dem Schluss kommt: „Das wäre eine großartige Operette!“ Das passt auch in diese unterschwellige traurige hoffnungsvolle Sehnsucht zwischen flotten exzentrischen und wilden Tänzen auf dem Vulkan und der düsteren unbekannten Zukunftsahnung. Hans Hoffers Bühnendekoration beschwören den Glamour und das Flair der goldenen Ära Hollywoods, aber auch die typische Neue Sachlichkeit mit einer frechen Berliner Prägung herauf und sein Design der angrenzenden Hotelzimmer – zwei hinterleuchtete Kästen, die die Liebenden verkleinern – ist sowohl visuell als auch metaphorisch sehr auffallend.
Eine äußerst starke Interpretation fügte am Abend der zweiten Besetzung den nötigen Schwung hinzu. Die sehr attraktiv gutaussehende junge Sopranistin Vanda Sipova war in großartiger Stimme, um die komplexe Rolle der Madeleine zu interpretieren, ebenso überzeugend als warmherzige hingebungsvolle Ehefrau und auch als zu Unrecht behandelte rachsüchtige Liebhaberin. Auch als Schauspielerin und Tänzerin war sie einfach große Klasse! Der Bariton Csaba Kotlars zeigte Tapferkeit und Charme, trotz einer etwas rauen Stimmfärbung machte er Aristide zu einem liebenswerten gut aussehenden Schurken und auch als Tangolita zeigte die Schauspielerin und Tänzerin Linda Fernandez ihre sanften Formen in sensuellen Bewegungen und unwiderstehlichem Sexappeal. Die Sopranistin Lucie Hajkova dominierte ihre Zeit auf der Bühne als prahlerische und witzige Daisy Parker, die mit ihrem grossen kaugummiziehenden Mundwerk viel Spaß mit dem neu importierten Tanz „Känguru“ verbreitete. Obwohl der blutjunge Tenor Daniel Matousek mit seiner warmen angenehmen Stimme und einem überschäumenden Schauspieltalent als Mustafah ihr fast die Show gestohlen hatte. Als selbsternannter türkischer Don Juan zerkaute er szenisch Daisys amerikanischen Kaugummi mit viel Genuss.
Der Dirigent Jan Kucera leitete eine gekonnte, temperamentvolle Darbietung mit messerscharfen Tempo- und Texturwechsel und aber auch gewaltige Szenen mit viel musikalischen Scharm und tiefer Sensibilität. Was das Operetten-Happy End betrifft: Es bleibt versteckt und verschwommen in einer Entstehungszeit ohne Wiederkehr. Der türkische Don Juan alias Mustafah, wohl das Symbol einer minderwertigen Rasse, immigriert in aller Hast auf dem letzten Rettungsboot des Pack-Boots „Titanic“ mit seiner frischvermählten amerikanischen Frau Daisy Parker aus dem fremdenfeindlichen Land… Ein Wiedersehn ohne Wiederkehr… Ein Tod ohne Sterben… Das Schicksal von Madeleine und Aristide und den anderen ist uns unbekannt!
Was Abraham betrifft, er war der Toast von Berlin nach dem Ball im Savoy! Einen Monat später kamen die Nazis an die Macht und erklärten jegliche jüdische Kunst für verboten, was seine Karriere in Deutschland beendete. 1939 war er in Paris völlig mittellos ohne einen einzigen Pfennig Geld, dann aber gelang es ihm doch noch den Weg in die USA zu finden, wo er leider in einer psychiatrischen Klinik landete. Aber sein Librettisten-Kollege Löhner-Beda hatte noch viel weniger Glück und starb 1942 in einem Konzentrationslager. Die Wiedergeburt des Ball im Savoy ist eine angemessene Hommage an ihr Vermächtnis und an ein weltliches innovatives Werk, das seiner Zeit weit voraus war!
Wenn sie an dem Zyklus MUSICA NON GRATA interessiert sind, sollten sie unbedingt einen kleinen Sprung nach Prag machen, sie werden es bestimmt nicht bereuen!
Der Zyklus MUSICA NON GRATA in Prag wird bis zum Jahre 2023 fortgesetzt: Der Ball im Savoy ist in der Saison 2022/23 noch mehrmals auf dem Spielplan der Staatoper Prag. Weitere Auskünfte und Kartenbestellung unter: info@narodni-divadlo.cz Tel.: 420 224 901 448HINWEIS:
Bei IOCO am 25.6.2022 schon erschienen: FLAMMEN - Oper von Erwin Schulhoff, link HIER! / ebenfalls im Zyklus MUSICA NON GRATA. (PMP/14.10.2022)
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