Berlin, Staatsoper Unter den Linden, SIEGFRIED - Richard Wagner, IOCO Kritik, 12.10.2022

Berlin, Staatsoper Unter den Linden, SIEGFRIED - Richard Wagner, IOCO Kritik, 12.10.2022

Staatsoper unter den Linden

Staatsoper Unter den Linden - Im Traum © Max Lautenschläger
Staatsoper Unter den Linden - Im Traum © Max Lautenschläger

SIEGFRIED - Richard Wagner

- Wagner spielen ist Alltag und Fest zugleich -

von Ingrid Freiberg

Richard Wagner - aber in Venedig © IOCO
Richard Wagner - aber in Venedig © IOCO

Der Auftakt der Spielzeit 2022/23 an der Staatsoper Unter den Linden stand im Zeichen von Wagners RING-Tetralogie: Alle vier Teile wurden innerhalb einer Woche im Oktober Premiere (2., 3., 6. 9. Oktober 2022) aufgeführt, ein wahres „Mammutprojekt“ für ein Repertoirehaus.

Die Uraufführung der Oper Siegfried fand am 16. August 1876 im Bayreuther Festspielhaus unter der Leitung von Hans Richter statt. Angefangen von den 1840er bis heute verbindet die Berliner Hof- und Staatsoper, heute die Staatsoper Unter den Linden, ebenfalls eine intensive Auseinandersetzung mit Wagners Werk. Dass seine Opern und Musikdramen einer außergewöhnlichen Beachtung bedürfen, liegt an den künstlerischen und technischen Herausforderungen und der inhaltlichen Substanz. Wagner spielen ist Alltag und Fest zugleich; einerseits gehören seine Werke zum Standardrepertoire, andererseits müssen alle Kräfte aufgewandt werden, um Aufführungen in hoher Qualität zu realisieren. Die Maßstäbe hierzu hat Wagner selbst gesetzt, durch seine Partituren, aber auch seinen unbedingten Einsatz für sängerische und orchestrale Präzision. Mehrmals war Wagner in Berlin, um für sich und seine Werke einzustehen. Nach den ersten Festspielen in Bayreuth zögerten die Verantwortlichen in Berlin aber zunächst, da sie sich den technischen Anforderungen einer Ring-Aufführung nicht gewappnet fühlten. Erst der Sänger und Theaterdirektor Angelo Neumann trieb das Projekt energisch voran. Seine ursprüngliche Idee, für sein eigens zusammengestelltes Ensemble, ein von Anton Seidl geleitetes Orchester, Chor, Solisten, Techniker und Bühnenausrüstung von der Hofoper zu nutzen, zerschlug sich. Stattdessen mietete Neumann das 1859 eröffnete Victoria-Theater, das mit einer Kapazität von ca. 1.400 Besuchern dem Haus Unter den Linden mit seinen damals 1.800 Plätzen kaum nachstand. Zwischen dem 5. und 9. Mai 1881 präsentierte Neumann den kompletten Ring-Zyklus unter großer öffentlicher Anteilnahme.

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Eine große öffentliche Anteilnahme erfährt auch der aktuelle Ring: Krankheitsbedingt musste Daniel Barenboim das Dirigat der Neuinszenierung niederlegen, das auch ein Geburtstagsgeschenk für ihn sein sollte. Aufgeregt erwartet das Publikum Christian Thielemann, der kurzfristig eingesprungen ist und der in den ersten beiden Teilen Klangwunder vollbrachte.

Das Unheil stammt von alten Verträgen

Wagner hat sein halbes Leben lang an die Revolution geglaubt, wie nur irgendein Franzose an sie geglaubt hat… „Woher stammt alles Unheil in dieser Welt?“ fragte sich Wagner. „Von alten Verträgen“, antwortete er, gleich allen Revolutions-Ideologen. Konkret: von Sitten, Gesetzen, Moralen, Institutionen, von alledem, worauf die alte Welt, die alte Gesellschaft ruht. „Wie schafft man das Unheil aus der Welt? Wie schafft man die alte Gesellschaft ab? Nur dadurch, dass man den Verträgen (dem Herkommen der Moral) den Krieg erklärt.“ Die Tetralogie ist gleichzeitig Mythos, Heldenepos, Beziehungsdrama, Kapitalismuskritik und Familiensaga, die im Grunde nur einen Protagonisten kennt: den Menschen. Es geht um Macht und Ohnmacht, Liebe und Hass, Freiheit und Zwang, Gier und Lust.

Der russische Regisseur Dmitri Tcherniakov konzipierte mit Daniel Barenboim über Jahre diese Neuproduktion des Ring des Nibelungen. Nachdem Barenboim das Dirigat absagen musste, übernahm sehr kurzfristig Christian Thielemann die Musikalische Leitung der Premieren. Für Tcherniakov gab es viel Anerkennung von ihm. Dessen Arbeit sei „hoch beeindruckend. Er ist ein ganz großer Künstler. Er hat Ideen, die völlig nachvollziehbar sind. Es ist stringent von A bis Z“, sagte Thielemann. „Wie er Gesten und Reaktionen auf bestimmte Worte choreografiert hat, das hat mich geradezu umgehauen.“ Der Dirigent selbst bezeichnete die Übernahme als ein absolut irrsinniges Unterfangen seinerseits, da er die szenische Umsetzung im Probenprozess nicht begleitet habe.

Staatsoper Unter den Linden / SIEGFRIED hier Stephan Rügamer (Mime), Michael Volle (Der Wanderer) © Monika Rittershaus
Staatsoper Unter den Linden / SIEGFRIED hier Stephan Rügamer (Mime), Michael Volle (Der Wanderer) © Monika Rittershaus

Regietheater steht immer öfter im Vordergrund

Und diese Umsetzung hat es in sich: Das Publikum ist längst an Regietheater gewöhnt… Die Zeiten, wo Künstler*innen im Vordergrund einer Produktion standen, sind vorbei. Auf die Gefahr, gestrig zu wirken, kommt der Wunsch auf, dass Wagners detailliert durchdachte Regieanweisungen einmal wieder umgesetzt werden. Ohne Zweifel könnte das zu aufregenden Aufführungen führen. Tcherniakovs Auffassung, den Ring in ein Forschungsinstitut namens E.S.C.H.E. = Experimental Scientific Center for Human Evolution zu verlegen, mit einem „Göttervater“, der mit Riesen und Menschen Experimente durchführt, sie manipuliert, ist modernes Regietheater in Reinform, das, wenn man sich von der Werktreue löst, anregende Denkanstöße gibt. Für Siegfried bemüht Tcherniakov, der auch für das Bühnenbild verantwortlich zeichnet, es kostete über eine Million Euro, die Technik der Drehbühne. Zwischen den verschiedenen Räumen (Stresslabor, Wartehalle, Hörsaal, Korridor, Zwischenstock mit Käfigen, Kellerwerkstatt, Konferenzraum, Schlaflabor, Legoland-Kinderzimmer von Jung-Siegfried, Aufenthaltsraum der Beschäftigten, Raum mit der Weltesche…) werden immer wieder Verbindungstüren aufgestoßen, von den Emporen aus wird das Geschehen beobachtet, nicht immer leicht für die Auftritte der Mitwirkenden. Wobei gerade dieser Umstand besonders positiv hervorzuheben ist: Die Personenregie und deren Umsetzung ist bestechend und führt zu packenden Szenen. Verwirrend nur die auf Leuchtkästen zu lesenden Texte, wie Phase 2: Versenkung und Meditation, Phase 3: Suche nach dem Inneren Helfer, Phase 5: Konfrontation mit Konflikten, Phase 6: Realisierung eines inneren Wunsches und schwierig die Deutung der Ahnengalerie.

Die Kostüme von Elena Zaytseva sind modern und sängerfreundlich. Zaytseva unterstreicht Tcherniakovs Inszenierung: Siegfrieds lässige Jungenhaftigkeit mit einem blauen Trainingsanzug bis hin zum dandyhaften Lover, Wotans Machtverlust vom elegant gekleideten Unternehmer bis hin zum alten Mann mit Strickweste, Brünnhildes Unberührtheit bis hin zur attraktiven liebenden Frau und das von der Regie keimfrei herausgearbeitete „Klinikpersonal“ durch weiße Kittel, so auch das Waldvögelein. Fafner steckt in einer Zwangsjacke, Mime und Alberich sind läppisch gekleidete alte Zwerge, Erda trägt ein sehr konservatives Schneiderkostüm.

Staatsoper Unter den Linden / SIEGFRIED hier Andreas Schager als SIEGFRIED, Stephan Rügamer (Mime), © Monika Rittershaus
Staatsoper Unter den Linden / SIEGFRIED hier Andreas Schager als SIEGFRIED, Stephan Rügamer (Mime), © Monika Rittershaus

Das Gesangswunder von Berlin

Siegfried wird am zweiten Tag des Bühnenfestspiels aufgeführt. Die Zeit für einen Helden ist gekommen. Er kennt weder Furcht noch seine wahre Herkunft, wird ein Schwert schmieden, einen Drachen besiegen und Brünnhilde befreien. Es ist die Stunde von Andreas Schager. Er gilt als einer der besten Siegfried-Tenöre weltweit. Zunächst als kleiner trauriger Junge, in diesem unsäglichen Labor alleine gelassen und mit Spielzeug überhäuft, dann jugendlich frisch, draufgängerisch, teilweise rotzfrech und anmaßend „Daß der mein Vater nicht ist…“ verkörpert er glaubhaft, sich vor nichts und niemanden zu fürchten. Dieser unwissende Knabe ohne jegliches Benehmen und ohne Achtung vor allem und jedem, was ihn umgibt, fasziniert durch sein Spiel und seine Spontanität, besticht durch seine Aussprache. Seine prachtvolle Stimme ist von kraftvoller ungebrochener Intensität und Ausdauer „Notung! Notung!“ Und es gelingen ihm auch mühelos leise Töne: Berührend „So starb meine Mutter an mir?“, eine mitreißende Leistung von immenser dramatischer Präsenz. Schager lässt diesen Abend zur Sternstunde werden. Anja Kampe als Brünnhilde, wunderbar sinnlich, findet ergreifende Farben der Sehnsucht. Mit „Heil dir Sonne!“ wird ihr bewusst, dass ihre göttliche Kraft geschwunden ist. Sie wird sich der unwissenden Selbstgefälligkeit ihres Helden und ihrer eigenen Wehrlosigkeit bewusst. Mit Intensität, biegsamer Stimme und schillerndem Charakter füllt sie die lyrischen Räume. In den Spitzen bisweilen mit Schärfen findet sie zu einem dramatisch aufblühenden Ton mit Seelentiefe und Klangschönheit. Mit diesem Siegfried erlebt sie die menschliche Leidenschaft einer liebenden Frau. Das gleißende Neonlicht, die profane Liege im Schlaflabor wertet den grandios gesungenen und gespielten Liebesrausch allerdings ab. Nichtsdestotrotz sind Kampe und Schager „Selige Öde auf sonniger Höh‘!“ ein verzückendes Liebespaar.

Stephan Rügamer als Mime überzeugt als Charaktertenor. Gierig und gerissen versucht er, Siegfried zu manipulieren, seinen Bruder Alberich zu übervorteilen, Wotan zu verjagen und scheitert doch kläglich. Seine Gestaltung des Zwerges erzeugt Mitleid, ist darstellerisch überzeugend. Lebendig, intensiv, mit all seiner Persönlichkeit und Kompetenz lässt er sich auf die schwierige Rolle ein. Sein Mime ist weder kreischend noch schrill, sondern traurig, wütend und beleidigt. Rügamers subtile Körpersprache, seine Tics geben der Rolle Profil. Sicher lässt er seine gesangliche Wandlungsfähigkeit aufblühen. Der Wanderer (Wotan), Seniorchef des Menschenforschungs-Instituts, ist alt geworden, er geht am Stock und trägt statt eines Schlapphuts eine hell-beige Mütze, einen sandfarbenen Mantel, wie ihn alte Männer tragen. Überaus agil allerdings ist Michael Volle in seiner Rollengestaltung - ein Ausnahme-Heldenbariton - souverän, mit feinem Gefühl für Nuancen, differenziert, ausgereift-geistreich, mit eloquenter Deklamation „Heil dir, weiser Schmied!“  „Wache, Wala!“ Worte fehlen, seine Leistung gebührend zu beschreiben! Er ist ein Wotan zum Niederknien…

Staatsoper Unter den Linden / SIEGFRIED hier Andreas Schager als SIEGFRIED, Anja Kampe als Brünnhilde © Monika Rittershaus
Staatsoper Unter den Linden / SIEGFRIED hier Andreas Schager als SIEGFRIED, Anja Kampe als Brünnhilde © Monika Rittershaus

Alberich lauert, ebenso wie sein Bruder und Konkurrent Mime, auf das Ergebnis des Kampfes zwischen Siegfried und dem zum Drachen verwandelten Fafner. Wie Wotan in Gestalt des Wanderers höhnisch bemerkt: „Ein Helde naht – zwei Niblungen geizen das Gold.“  Der Niblungen-Zwerg, der der Liebe entsagt hat, hat nur noch den einen Wunsch, den Ring zu ergattern. Mit anrührender eindringlicher Baritonstimme, anklagend, verletzt, aber nicht weinerlich, den Schmerz des Verrats ergreifend fühlbar machend, bleibt Kränzle ein gescheiter und selbstbewusster Charakter, der sich um seine Ideale geprellt sieht. Seine überaus angenehm gefärbte und kultivierte Stimme überzeugt dank treffend lyrischem Grundverständnis sowie Klarheit der Diktion. Peter Rose ist der Drache Fafner, ein aufgrund des Brudermordes verfluchtes Wesen, das das Rheingold bewacht. In einer Zwangsjacke und in Ketten von Wächtern herbeigeführt kommt es sogleich zu einem aufregenden Kampf, in dem Siegfried ihm sein Schwert Notung ins Herz sticht. Der Sterbende erzählt von seinem Bruder Fasolt, den er einst um den verfluchten Ring erschlug. Rose brilliert nicht nur schauspielerisch, dem körperlich starken Siegfried durchaus gefährlich werdend, sondern bleibt der Partie auch musikalisch nichts schuldig. Physisch an ein wildes Tier erinnernd, glänzt er mit wütenden Ausbrüchen, mit allem, was einem Drachen ein unverwechselbares Profil gibt. Imposant, sicher im Ton, klingt sein prachtvoller Bass. Eine Entdeckung ist Victoria Randem als Waldvogel. Trotz weißem Kittel und albern flatterndem Origami-Vogel in der Hand gelingt das Zwiegespräch mit Siegfried romantisch und bezaubernd „Hei! Siegfried erschlug nun den schlimmen Zwerg!“ Ihre quellfrische helle, höhensichere Stimme, ohne jegliche aufgesetzte Drücker, begeistert. Wotan weckt die allwissende Urweltweise Erda unsanft aus tiefem Schlaf, zerrt sie in den Konferenzraum, bedrängt sie körperlich, würgt sie. Als sie ihm seine Gottmacht abspricht, schwört er der Urmutter-Weisheit ab und übergibt sie dem ewigen Schlaf. Anna Kissjudit gibt der Seherin ein unverwechselbares Gesicht, selbstbewusst, willensstark. Völlig unangestrengt, dramatisch fesselnd mit tiefer Grundierung und expressiv wuchtigem Wohllaut, tritt sie Wotan entgegen. Mit schonungsloser Emphase enträtselt Kissjudit diese schwierige Partie.

Tonschönheit und Dramatik - ein magisches Erlebnis

Christian Thielemann, Musikalische Leitung, bezeichnete die Zusammenarbeit mit der Staatskapelle Berlin als „einfach formidabel. Wir haben uns sofort verstanden.“ Die Staatskapelle liege musikalisch sehr auf seiner Linie. „Es ist ein präzises, dunkel spielendes Orchester, das mir unglaublich gut gefällt. Die Musiker sind unglaublich flexibel, haben ein berückendes Pianissimo.“ Thielemanns Stabführung, die herausgearbeitete Tonschönheit und Dramatik, dramaturgisch feinfühlig, bisweilen mit langsamen Tempi, haben Sogwirkung und lösen den Zauber von Wagners Werk ein. Die intellektuelle Kälte der Inszenierung wird konterkariert. Thielemanns Feingefühl hebt die Musikerinnen und Musiker zu Höchstleistungen empor: Streicher, Hörner (Siegfried-Horn!), Holzbläser, Posaunen und Tuben tönen wie zum ersten Mal vernommen. Es ist ein magisches Erlebnis.

Der Schlussapplaus ist dementsprechend euphorisch. Lautstark, mit vielen Vorhängen, werden Christian Thielemann, die Staatskapelle und die Sängerinnen und Sänger, die fast alle zum Ensemble gehören, gefeiert.

Nachtrag: Auf arte.tv/opera wird Wagners Ring ab dem 19. November 2022 in Gänze zu sehen sein.

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