Saint-Denis, Basilika Saint-Denis, FESTIVAL DE SAINT-DENIS 2022, IOCO Kritik, 02.07.2022

Saint-Denis, Basilika Saint-Denis, FESTIVAL DE SAINT-DENIS 2022, IOCO Kritik, 02.07.2022
Cathédrale Saint-Denis © Peter Michael Peters /IOCO)
Cathédrale Saint-Denis © Peter Michael Peters /IOCO)


FESTIVAL DE SAINT-DENIS

FESTIVAL DE SAINT-DENIS 2022 - Basilique Cathédrale Saint-Denis

Benjamin Britten : Les Illuminations, Op. 18 (1940) -  Francis Poulenc : Timor et tremor - aus Quatre motets pour un temps de pénitence - 1938/39, Stabat Mater (1951)

Orchestre National de Lille, Choeur de l’Orchestre de Paris, Ingrid Roose - Chorleiterin, Marc Korovitch - Chorleiter, Jodie Devos - Sopran,  Alexandre Bloch - Direktion

von Peter Michael Peters

EINE ERLEUCHTUNG ZWISCHEN HIMMEL UND ERDE

Zweimal kurz à propos

Benjamin Britten, geboren am 22. November 1913 in Lowestoft / Suffolk und gestorben am 4. Dezember 1976 in Aldeburgh, ist ein britischer Komponist, Dirigent, Bratscher und Pianist. Er wird oft als der größte britische Komponist seit Henry Purcell (1659-1695) angesehen. Francis Poulenc ist ein französischer Komponist und Pianist, geboren am 7. Januar 1899 in Paris, wo er am 30. Januar 1963 starb.

« La musique savante manque à notre désir ? »

« Ce sont des villes ! C’est un peuple pour qui se sont montés ces Alleghanys et ces Libans de rêve ! Des chalets de cristal et de bois se meuvent sur des rails et des poulies » (Auszug aus Rimbaud : Les Illuminations / 2. Villes).

Benjamin Britten Büste in Aldeburgh © IOCO
Benjamin Britten Büste in Aldeburgh © IOCO

Les Illuminations ist ein Zyklus von zehn Sektionen für hohe Stimme (Sopran oder Tenor) und Orchester, den Britten 1939 auf Prosa-Gedichten von Arthur Rimbaud (1854-1891) aus dem gleichnamigen Werk komponierte. Es ist für Britten sowohl die Krönung seines Schaffens in den 1930er Jahren als auch ein Sprungbrett für seine zukünftigen Kompositionen. Als er das Gedicht von Rimbaud entdeckte, identifizierte sich der Komponist sofort mit diesem jungen Dichter. Er geriet plötzlich in Aufruhr über dessen Schreibweise, gleichzeitig schillernd und sogar sehr klar in seiner Hermetik, zutiefst sinnlich: Es war eine Offenbarung für ihn! Viel mehr als für die Quatre Chansons françaises (1927), wird hier der Klangzauber des Wortes für ihn zu einer intensiven Inspirationsquelle und auch ein großes Erstaunen dieser für ihn neuen Verse in Prosa wird nicht gering sein. Wenn wir die Umsicht und die Diskretion erkennen, mit welchem nur ganz wenige französische Komponisten es gewagt haben, diesen Dichter zu vertonen, ist es noch viel erstaunlicher für einen britischen Komponisten. Seine ewige Jugend, seine Frühreife, seine gestörte Sexualität und schließlich sein Exil, jenseits von Worten und der Welt, konnten es nicht verfehlen, das Britten sofort fasziniert war. Auffallend ist darüber hinaus die Abwesenheit von jeglichem Intellektualismus, um an diese komplexe Poesie heran zugehen: Darin kommt er in der Tat dem tiefen Streben von Rimbaud sehr nahe. Der durch die Unordnung der verbalen Alchemie die Sinne zu erreichen suchte! Hat er nicht eben in Les Illuminations (1872) geschrieben „ Fehlt für unsere Begierde künstlerische Musik?“

Britten vereinheitlichte seinen Zyklus über die zweideutige Beziehung des musikalischen Geist und den deklamatorischen Eigenheiten der französischen Sprache triumphal. Das Werk beginnt mit Fanfare, einem von Britten erfundenen Titel, dessen Text aus der einzigen Schlussphrase von Parade besteht und dreimal erscheint, an der Schwelle, in der Mitte (Zwischenspiel) und gegen Ende des Zyklus: « J’ai seul la clef de cette parade sauvage. » Dieser rätselhafte Satz, mit dem Rimbaud seine Hermetik garantiert und behauptet, scheint für Britten zu bedeuten, dass das Spektakel der Musik für sich selbst verantwortlich ist und ein Mysterium bleiben muss. Darüber hinaus ist es auch das kaum gelüftete Geheimnis seiner eigenen Sexualität. Les Illuminations sind fraglos eine erotische Gedichtsammlung und Britten findet seine eigene Sinnlichkeit in der des Dichters. Dreimal an strategischen Stellen zu bekräftigen: « J’ai seul la clef… », das läuft unweigerlich darauf hinaus, dass der Musiker jedem anderen die Möglichkeit einer allzu offensichtlichen oder schnellen Erklärung verweigert…

Saint-Denis Cathédrale / Orchestre National de Lille © Philippe Filleule
Saint-Denis Cathédrale / Orchestre National de Lille © Philippe Filleule

Festival de Saint-Denis

Stabat Mater, der Schmerz einer Mutter

« Je cache cette œuvre à tout le monde pour voir leurs trombines quand ils entendront ces 45 minutes de chœur et de grand orchestre que Pierre Bernac (1899-1979) considère comme ma meilleure œuvre… Si vous saviez comme c’est doux de se sentir soutenu par une inspiration religieuse… » (Poulenc).

Ende August 1950 komponierte Poulenc die ersten Noten seiner Stabat Mater, das er dem Andenken seines Freundes, dem Maler Christian Bérard (1902-1949) widmete. Das Werk ist die Vertonung einer mittelalterlichen liturgischen Sequenz mit einem lateinischen Text in 12 Abschnitten von Jacopone da Todi (etwa 1230-1306). Wir kennen die Bestimmung der Stabat Mater von Poulenc durch zahlreiche Auszüge aus seiner Korrespondenz und durch die Reihe von Interviews, die er 1953 mit Claude Rostand (1912-1970) führte. Dieser fragte ihn, ob bei der Komposition des Werkes eine fromme Absicht vorliege. „Ja“, antwortete Poulenc. „Als Christian Bérard starb, beschloss ich ein religiöses Werk zu seinem Andenken zu schreiben. Ich hatte zuerst an ein Requiem gedacht, fand es aber zu pompös. Da kam mir die Idee eines Fürbittegebetes und das der bewegende Text der Stabat Mater mir der perfekte Anlass zu sein schien, um Notre-Dame de Rocamadour die Seele des lieben Bérard anzuvertrauen.“

Warum Notre-Dame de Rocamadour? Die Antwort findet sich im Jahre 1936: Nach Jahren, in denen Poulenc sich von der Religion abwandte, in denen er viele Trauerfälle erlitt, in denen er nach der Enthüllung seiner Homosexualität sehr schwere Zeiten durchlebte! In diesem Sommer ging er mit Freunden nach Rocamadour, einem kleinen Dorf in der Region von Lot. Dort in einer sehr einfachen Kapelle, die teilweise in den Felsen gebaut ist und wo die für ihre Wunder bekannte Statue der Vierge Noire de Rocamadour aufbewahrt wird. Hier wird der Komponist von der Spiritualität des Ortes ergriffen und wendet sich dem Gebet zu. Er vertont die sehr bescheidenen Litanies à la Vierge Noire (1936), die gesungen werden, um zur Jungfrau zu beten. Von nun an wird Poulenc einen Glauben finden, von dem er sagt: „Wenn sie wissen, wie friedlich es ist, sich von einer religiösen Inspiration unterstützt zu fühlen…“.

Am 5. Oktober 1950 schrieb Poulenc an Henri Sauguet (1901-1989): „Ich habe gerade wie verrückt gearbeitet. Ich habe die Stabat Mater vorgestern beendet. Ich muss sie noch orchestrieren. Unglaublich, in 2 Monaten 35 Minuten Musik geschrieben zu haben“. Und gegenüber Bernac präzisiert er: „Die Stabat Mater ist fertig, fertig. Sie ist mir langsam auf die Nerven gegangen. Sie ist gut, weil zutiefst authentisch.“

Konzert am 23. Juni 2022 - Basilique Cathédrale Saint-Denis

Rimbauds Parade…

Festival de Saint-Denis / Jodie Devos und Alexandre Bloch © Christophe Fillieule
Festival de Saint-Denis / Jodie Devos und Alexandre Bloch © Christophe Fillieule

Les Illuminations von Rimbaud zu hören, vertont von Britten, ist immer wieder ein spannendes Erlebnis. Der Text ist einer der originellsten und stärksten der französischen Poesie, seine unerhörten Bilder und gekreuzten Allianzen sind symbolistische, ja surrealistische Juwelen, getragen von einer brennenden Fantasie, die Brücken zu unbekannten Sinneswelten bauen. Brittens prägnante und kontrastreiche Musik dient Rimbauds Worten bewundernswert und entfaltet einen halluzinatorischen, ekstatischen Heiligenschein aus verschiedenen bemerkenswerten Ansichten. Eine mitreißende Solistin, die belgische Sopranistin Jodie Devos hat ihren glühenden Diamanten sichtlich inspiriert von mehreren Gemälden, die von Rimbaud herauf beschworen wurden «J’ai seul la clef de cette parade sauvage» und die Sängerin verblüfft dreimal, so wie das Emblem eines Bilderrätsels beim Entziffern. Es ist so, dass die Spannung des Mysterium großartig von einem Ende zum anderen von dem großartigen französischen Dirigenten Alexandre Bloch gehalten wird, dessen tanzende Arme es verstehen, jede musikalische Phrase einfach zu elektrisieren. Der Zyklus hätte mit Parade enden können, aber Départ trägt zum Rätselhaften bei, sodass alles im Schatten und Gemurmel verblasst…

Auch die erste Geige und die erste Bratsche laden sich durch ihren Sologesang zu dieser halluzinatorischen Wanderung ein, die das Skurrile verbindet und zu immer auffälligeren Visionen aufruft. Die Energie und Lebendigkeit unterstreicht der Dirigent zu Recht, denn wie sehr das Gedicht die gebieterische Sehnsucht nach Überraschendem und nach Neuem zum Ausdruck bringt. Britten hat die Bedeutung von den Illuminations von Rimbaud bemerkenswert verstanden und der Komponist hat jedes andere Timbre als die Streicher verworfen und so die Intensität der menschlichen Stimme hervorgehoben, wie ein schimmernder Edelstein in der die Weltordnung verkündet und neu erfunden wird.

In der Konzentration, der Spannung und den Kontrasten finden wir die orchestrale Ausgewogenheit, die wir bereits im Concerto für Orchester von Béla Bartók (1881-1945), Fetischpartitur des Maestro, gehört haben. Was die Wahl des Programms anbelangt, ermessen wir hier wie der Gesang der Instrumente und die Prosodie die unermessliche Größe des Textes von Rimbaud erreicht. Das Schreiben des jungen Britten (27 Jahre alt im Jahre 1940) produzierte eine Konstellation traumhafter Episoden, die abwechselnd virulent und sogar satirisch (Royauté) und verzweifelt sinnlich (« Gracieux fils de Pan » aus Antique) sind. Vor allem aber ein rätselhaftes Klima: Verliebt, streichelnd mit Being Beauteous (Liebeserklärung an den Freund und Begleiter von Britten, der Tenor Peter Pears / 1910-1986).

…Poulencs Paradies

Nach einer kleinen Pause von maximum 5 Minuten sind wir schon im zweiten Teil mit Poulencs Timor et Tremor (Ausschnitt aus Quatre Motets pour un temps de pénitence), der ohne Unterbrechung mit durchsichtigem Feingefühl in die Stabat Mater übergeht. Als aufrichtiger Gläubiger vertont Poulenc den mitfühlenden Text der Stabat Mater. Bloch nähert sich dem Heiligen Zyklus genau als das, was er ist: Eine Reihe von ausdrucksstarken, radikalen Visionen, die ermahnen um zum Zeugnis aufzurufen und hoffen sehr bewegt, dass sie den Trost des Paradieses anrufen…

Es gibt offensichtlich eine relevante Parallele im Programm des Abends zwischen der von Rimbaud beschworenen wahnsinnigen (Enragée) wilden Paradies im ersten Teil und den ebenfalls halluzinierten Bildern der Inbrunst, die vom „Mönch und Rumtreiber“ komponiert wurden. Die Parade von Rimbaud und das erhoffte Paradies von Poulenc! Der Dialog zwischen diesen beiden stark geprägten poetischen Welten begründet den großen Wert dieses Programmes.

Festival de Saint-Denis / Jodie Devos © Christophe Fillieule
Festival de Saint-Denis / Jodie Devos © Christophe Fillieule

Der musikalische Leiter des Orchestre National de Lille dirigiert und führt gerne großen Massen an: Mit dem imposanten Chor des Orchestre de Paris in einer elektrifizierten Dramaturgie gräbt der Dirigent tief in die Gewalt der Kontraste einer außergewöhnlichen Partitur ein. Durch das Fehlen grundloser und billiger Verführung besticht die Interpretation jedoch mit einer Abfolge von oft kurzen, dichten und leidenschaftlichen Sequenzen und überrascht das Betrübnis und sogar den erregenden Schrecken, den die Gestalt der schmerzerfüllten Heiligen Jungfrau auslöst, verlassen und zerstört nach der Kreuzigung und dem Tod ihres Sohnes. Jodie Devos, die schließlich den Gesangspart der beiden Teile des Programmes sang (die belgische Sopranistin Sophie Karthäuser konnte aus Gesundheitsgründen Les Illuminations nicht singen), glänzt mit ihrem schillernden und dunklen Ton, der die ganze Tragik der Szene und die verzweifelte Hoffnung der Gläubigen konzentriert. Instrumentalisten, Chor und Sopran singen und erleben die Verwirrung des betrübten Gläubigen und das unermessliche Trostgebet, das im aller letzten Moment deutlicher wird: Maria in Schmerzen eine Hinterbliebene, die auch die barmherzige Frau ist, Beschützerin am letzten Tag. Die Menschheit ist erhitzt von diesem bitteren und heftigen Chorgesang, getragen von einer aufgeregten Inbrunst. Das Engagement der Interpreten ist eine kraftvolle und vielseitige zweite Szene im Stil der großen barocken Mystiker, der große Makabre, das Phantastische und Furchterregende von Poulenc wird so vor unseren Augen verkörpert, unter der aktiven, schneidenden und nervösen Leitung von Alexandre Bloch. Ein atemberaubendes Konzert in der majestätischen Basilique Cathédrale Saint-Denis.

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Das FESTIVAL DE SAINT-DENIS besteht seit mehr als 50 Jahren und ist ein beliebter Treffpunkt für viele Musikliebhaber von Ende Mai bis Anfang Juli. Die Konzerte finden in der Basilique Cathédrale  Saint-Denis, im Saal der Légion d’Honneur und im Saal des Hôtel de Ville von Saint-Denis statt. Viele berühmte Musiker und Sänger haben im Laufe der Jahre das Festival bereichert. In diesem Jahre wirkten u.a. folgende Künstler mit: Myung-Whun Chung, Maxime Pascal, Stéphane Degout, Daniel Harding, Alina Ibragimova, Rosemary Standley, Pretty Yende, Ibrahim Maalouf, MC Solaar, Leonardo Garcia Alarcon, Julien Chauvin, Magdalena Kozena, Sir Simon Rattle, Alexandre Kantorow.

Basilika Saint Denis bei Paris © Wikimedia Commons
Basilika Saint Denis bei Paris © Wikimedia Commons

Weitere Informationen unter:

www.festival-saint-denis.com

reservations@festival-saint-denis.com,   Tel: + 33 1 48 13 06 07

Die königliche Nekropole Basilique Cathédrale Saint-Denis

Etwa 30 Minuten von Paris befindet die Stadt Saint-Denis mit ihrem alten historischen Zentrum und der Basilique Cathédrale Saint-Denis. Erbaut auf dem Grab von Saint-Denis, einem um das Jahr 250 verstorbenen Missionsbischof, beherbergt die Abbaye Royale de Saint-Denis seit dem Tod von König Dagobert im Jahre 639 und bis ins 19. Jahrhundert die Gräber von 43 Königen, 32 Königinnen und 10 Persönlichkeiten der Monarchie. 1966 wurde die Basilika in den Rang einer Kathedrale erhoben. Die Basilique de Saint-Denis wurde von Abbé Suger, Berater der Könige von 1135 bis 1144, entworfen und im 13. Jahrhundert unter der Herrschaft von Saint-Louis fertiggestellt. Sie ist ein Hauptwerk der gotischen Baustils.

Informationen:                 www.saint-denis-basilique.fr

Öffnungszeiten der Nekropole der Könige und Königinnen von Frankreich:

Montag bis Samstag: 10 Uhr – 18 Uhr 15 und am Sonntag: 12 Uhr – 18 Uhr 15., während der Gottesdienste geschlossen

Basilique Cathédrale Saint-Denis,  1, rue de la Légion d’Honneur, 93200 Saint-Denis, Tel : + 33  1 48 09 83 54

(PMP/30.06.2022)

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