Greifswald, Theater Vorpommern, 5. Philharmonisches Konzert - Florian Csizmadia, IOCO Kritik, 18.03.2022

Greifswald, Theater Vorpommern, 5. Philharmonisches Konzert - Florian Csizmadia, IOCO Kritik, 18.03.2022
Greifswald / Theater Greifswald © Vinzent Leifer
Greifswald / Theater Greifswald © Vinzent Leifer

Theater Vorpommern

5. Philharmonisches Konzert  -  Philharmonisches Orchester Vorpommern

- Musikkultureller Neustart in Mecklenburg-Vorpommern -

von Ekkehard Ochs

Die Musen kehren zurück! Und auch der Musik kann man nun erneut dort begegnen, wo sie zu lange schon fehlte: in den Theatern und Konzertsälen.

Auch in Mecklenburg-Vorpommern, wo eine vorauseilend rigide Corona-Maßnahmen bevorzugende Landesregierung der Musikkultur viele Monate öffentliches Schweigen verordnet und ihr damit schweren Schaden zugefügt hat. Nun also erste Befreiungsschläge mit der Wiederaufnahme des Musiktheater- und Konzertbetriebs. Etwa mit dem 5. Philharmonischen Konzert des Theater Vorpommern in Greifswald und Stralsund, das gleich mit einem thematisch besonderen Akzent auf sich aufmerksam machte: Man entschied sich fern jeden populistischen mainstreams für ein Programm mit ausschließlich Bearbeitungen. So geriet ein Repertoire in den Fokus, das bislang – wenn überhaupt – eher periphere Beachtung genoss und sich überdies schon lange dem Verdacht fehlender Originalität und damit mangelnder künstlerischer Qualität ausgesetzt sah. Damit präsentierten die Veranstalter nicht nur musikalisch Unbekanntes, sie animierten auch zu musikhistorisch wie musikästhetisch aufschlussreichen Überlegungen. Dramaturgin Katja Pfeifer hat darüber im Programmheft knapp und verständlich Wissenswertes mitgeteilt und mit Verweisen auf die Musizierpraxis des Barock, dem Verhältnis von Original und Bearbeitung im 19. Jahrhundert bis hin zu den Arbeitsweisen in der gegenwärtigen Popularmusik Verständnishinweise gegeben und Einordnungsmöglichkeiten geboten. Doch nun zu den Programmen selbst!

Theater Vorpommern / Philharmonisches Orchester Vorpommern © Peter van Heesen
Theater Vorpommern / Philharmonisches Orchester Vorpommern © Peter van Heesen

Es ging um Edward Elgar (1857-1934) und seine Bearbeitung der Bachschen (Orgel-)Fantasie und Fuge c-Moll BWV 537 für großes Orchester op. 86. Des Weiteren um Franz Liszts (1811-1886) Fassung der Schubertschen „Wanderer-Fantasie" C-Dur op. 15 (D 760) für Klavier  in ein Konzert für Klavier und Orchester und - als Uraufführung – um Giacomo Meyerbeers Choral „Ad nos, ad salutarem undam“ aus seiner Oper Der Prophet in der Lisztschen  Fassung als großformatige Orgel-Fantasie und Fuge, hier nun in der Orchesterbearbeitung von Florian Csizmadia, des Generalmusikdirektors am Theater Vorpommern. Die immer noch gekappten Besucherzahlen veranlassten das Theater Vorpommern, dieses Philharmonische Konzert in zwei Serien anzubieten, wobei in der „Zweitauflage“ der dort wegen Verhinderung des Pianisten nicht zur Verfügung stehende Schubert / Liszt durch Joachim Raffs (1822-1882) Orchesterbearbeitung der Bachschen d-Moll Chaconne für Violine solo BWV 1004  ersetzt wurde.

Spannende Abende also! Provozierten sie doch auch mancherlei Überlegungen darüber, was bedeutende Tonschöpfer daran gereizt haben mag, sich dem Werk eines großen Vorgängers zu widmen, es ungeachtet sicht- und hörbaren Respekts vor dem Original auf sehr individuelle und doch vielfach gravierende Weise zu bearbeiten, neue, eigene Klang-Sichten darauf zu entdecken. Das kann bei notengetreuer Übertragung des Vorhandenen beginnen und bis zur großflächigen, großbesetzten und instrumentatorisch höchst differenzierten Ausgestaltung samt fantasievollen Zusätzen reichen. Im Greifswald-Stralsunder Programm hat GMD Florian Csizmadia ganz auf solcherlei Variabilität und Vielfalt der Handschriften gesetzt.

Bei Bach, sagt man manchmal so oben hin, sei nichts zu verderben. Oh doch! Man kann. Was Elgar mit seiner Bach-Transkription (uraufgeführt 1922) übrigens nicht getan hat. Sein offensichtliches Ziel: „Ich wollte zeigen, wie hinreißend und groß und glänzend er [Bach] sich selbst hätte klingen lassen können, wenn er über unsere Mittel verfügt hätte.“ Einigermaßen spekulativ bleibt das schon, auch wenn Elgar seine ganze hochromantische Orchestrierungskunst aufgeboten hat, um seiner „Theorie“ zwingende Beweiskraft zu verleihen. Und dies mit nicht wenigen Klangmassierungen, dominantem Streichersatz, voluminöser Blech- und Holzbesetzung, umfangreichem Schlagwerk und zwei Harfen. Damit ist es dann doch noch zu einem ganz eigenen Stück geworden. Das kann man mögen, muss es aber nicht. Das Programmheft verlautet kryptisch-salomonisch, es handele sich bei diesem Werk „um eine nachschöpferische, individuelle Anverwandlung des Originals“.

Auf allerdings ganz andere Art der Annäherung zielt Liszt mit seiner vierteiligen Klavierkonzertfassung“ der Schubertschen „Wanderer-Fantasie“ (1851). Er verlässt Schuberts Notentextfolge bis auf eine Klavierkadenz nicht, nutzt aber die vielen Möglichkeiten, die sich ihm als glänzendem und fantasievollem Orchestrator aus der Transkription der Klaviervorlage auf Soloklavier und Orchester ergeben. Das betrifft Klaviertechnisches wie Klangliches gleichermaßen, vom für Schubert schwerlich denkbaren großen Espressivo der gesamten Anlage ganz zu schweigen. Und so signalisiert der erste Höreindruck: Es gibt natürlich viel Schubert (Thema und seine Motive), aber auch sehr viel Liszt; nicht zuletzt klavieristisch!

Außerordentlich klangattraktiv ist das Ganze schon wegen der stets wirkungsvollen Solo-Orchester-Konstellation, vor allem aber auch im Hinblick auf eine ungemein schlüssig wirkende Kontrastanlage, die den Hörer vom ersten bis zum letzten Ton ständig beschäftigt und ihn bis hin zum musikantisch nahezu überbordenden Finale zwingend „dabei“ sein lässt. Schon fast verwunderlich, dass dieses sowohl poetische, vor allem aber musikantisch frische und im besten Sinne unterhaltsame Stück bislang ein wahres Mauerblümchendasein fristet. Warum es nicht häufiger für die Musikpraxis nutzen? Als Gewinn wäre das ganz sicher zu verbuchen. Zumal dann, wenn der Solist den zwischen Schubert und Liszt chargierenden Ton genau trifft und dann dem damit sicheren Erfolg jede Garantie verleiht. In Greifswald und Stralsund hat das der 1987 in Hamburg geborene und mit bereits zehn Alben stilistisch zwischen U- und E-Musik ziemlich variabel präsente Martin Klett so mühelos wie überzeugend geschafft.

Theater Vorpommern / Philhamonisches Orchester Vorpommern hier GMD Florian Csizmadia © Peter van Heesen
Theater Vorpommern / Philhamonisches Orchester Vorpommern hier GMD Florian Csizmadia © Peter van Heesen

Und noch einmal Franz Liszt! Diesmal war es Vorpommerns GMD Florian Csizmadia, als Dirigent mit allen praktisch notwendigen Wassern gewaschen und als Musikwissenschaftler mit einer Arbeit zu den Vokalwerken Edward Elgars promoviert, der sich seinem erstaunten Publikum als nicht weniger „waschfester“ Meister fantasievoller Instrumentation erwies. Er liefert eigentlich eine dritte Bearbeitung. Denn erst gab es Meyerbeers Oper „Der Prophet“, dann Liszt mit der zunächst Klavier 4händigen, dann aber auch als großes Orgelwerk erschienenen Bearbeitung des Chorals „Ad nos, ad salutarem undam“ aus dieser Oper, und nun Csizmadias Orchesterfassung dieser für die Wiedereinweihung der restaurierten großen Ladegast-Orgel des Doms zu Merseburg gedachten Orgelvariante. Ihr hat sich Csizmadia 2018 gewidmet, sie aber, da eine geplante Aufführung coronabedingt nicht zustande kam, nochmals revidiert und diese 2. Fassung am 1. März in Greifswald und am 2. und 3. März in Stralsund uraufführen können. Wenn Liszts Fassung in mancher Literatur als großartiges, ja für das 19. Jahrhundert geradezu beispielhaftes Orgelwerk bezeichnet wird, dann kann man hinzufügen, dass auch Csizmadias Arbeit jede lobende Kritik und viel Aufmerksamkeit verdient. Absichtsvoll ist er über das Liszt-Orchester hinausgegangen, hat eine ganz eigene Klangvorstellung realisiert und dem dreiteiligen Stück eine verblüffend kontrastreiche, variable Klangwelt verliehen. Sein Gefühl für dramatische, höchst expressive Verläufe, eine mitreißende, äußerst sensibel gehandhabte Dynamik und die Charakterisierungskunst mittels einzelner Instrumente oder Gruppen überzeugen.

Eine das gesamte Werk bestimmende fesselnde, ja geradezu musikdramatische, szenische Stringenz machen das Werk, von dem man hört, dass davon demnächst eine gedruckte Ausgabe vorliegen soll, außerordentlich hörenswert. Es besitzt alle Qualitäten eines Repertoirestückes! Csizmadia selbst: „Wie andere Bearbeitungen soll auch diese Fassung das Original nicht verbessern oder gar ersetzen, sondern stellt eine individuelle interpretatorische Auseinandersetzung mit Liszts Material dar, die versucht, den bereits den Orgel- und Klavierfassungen inhärenten sinfonischen Charakter des Werkes herauszuarbeiten.“ Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen! Vielleicht aber doch noch ein Zitat Joachim Raffs. Der schrieb an seinen hochgeschätzten Kollegen Liszt, dessen Assistent er einst war: „Die Prophetenfuge habe ich mit großem Interesse durchgesehen.Wissen Sie, daß es mir noch immer ein Rätsel ist, wie Sie ein derartiges Motiv einer so mühseligen Bearbeitung unterziehen konnten? Mit diesem Aufwand von Erfindung könnten Sie bequem eine Originalkomposition von höchster Bedeutung herstellen, und man hätte nicht wieder hören müssen, daß Sie aus Mangel an eigener Erfindung  zu Meyerbeer gegriffen.“ Raff hat da wohl die wirklichen Qualitäten der Lisztschen Bearbeitung nicht  erkannt. Ihm lag allerdings nur die Fassung für Klavier vierhändig vor.

Johann Sebastian Bach Leipzig © IOCO / HGallee
Johann Sebastian Bach Leipzig © IOCO / HGallee

A propos Raff! Er hat dann selbst zur Feder gegriffen, um ein besonders geschätztes Werk zu bearbeiten: Bachs berühmte d-Moll-Chaconne aus der 2. Partita für Violine solo BWV 1004. Zuerst in einer Fassung für Klavier, dann, 1873, für großes Orchester. Es sind musikalische Früchte einer hohen Verehrung. Sie geht sogar so weit, als Raff ernsthaft vermutete, Bachs solistische Violinkompositionen seien eigentlich gar nicht für Violine gedacht, sondern eher Reduktionen, also Ergebnisse einer schon vorher vorhandenen Fassung „in anderer Gestalt“(!). Wesentlicher Grund dafür sei ihr polyphoner Gehalt, „Rechtfertigung genug für eine orchestrale Realisierung“. Und weiter: „Dem polyphonen Gehalt, der in der ersten Fassung der Ciaconna gelegen haben muss, nachzuspüren und selbigen im modernen Orchester flüssig zu machen, war nun der Zweck gegenwärtiger Bearbeitung, die kein anderes Verdienst für sich in Anspruch nimmt, als der erste Versuch dieser Art zu sein.“ Abwegig oder nicht - eine allemal faszinierende Idee!

Im Konzert ergab sich – anders als bei Liszt/Schubert – die Möglichkeit des direkten Vergleichs. Denn Marijn Seiffert, stellvertretende Stimmführerin der 2. Violinen im Philharmonischen Orchester Vorpommern, musizierte technisch sicher, harmonisch pieksauber, klangschön und sehr beherzt das Original, dem dann Raffs Version folgte: geschickt arrangiert (viel für Streicher),  tonlich eher zurückhaltend, wenn nicht, dann nur im sanften Vollklang musizierend, im Gestus oft kammermusikalisch, gern auch mal spielerisch bewegt und nur am Schluss mit klangpathetischer Note. Ein sehr hörerfreundliches Erlebnis!

Fazit: Ein Philharmonisches Konzert der konzeptionell durchaus besonderen Art. Sechs Aufführungen in Stralsund und Greifswald vor jeweils (corona-)vollen Häusern und einem Publikum, das sich die Freude über den Neustart ihrer Philharmonischen Konzerte sehr wohl anmerken ließ: Die Begeisterung war entsprechend euphorisch. Sie galt einem Klangkörper, der sich nach Monate dauernder Zwangspause in bemerkenswert frischer Musizierlaune präsentierte, den jeweiligen Solisten und einem GMD, der sich einmal mehr als Glücksfall für die Musikkultur Vorpommerns erwies. Die demnächst geplanten Programme für Konzert und Bühne – etwa weitere Philharmonische Konzerte, darunter ein Messias, Kammermusiken, Händels Alcina oder Lehars Lustige Witwe versprechen da viel Erfreuliches!

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