Köln, Oper Köln, MAZELTOV, RACHEL´E - eine musikalische Farce, IOCO Kritik, 29.06.2021
MAZELTOV, RACHEL’E - oder - MIKH RUFT DI FIDL UN IKH SING MAYN LIDL
eine musikalische Farce - 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland
von Albrecht Schneider
Auch die Oper Köln, von der Pandemie zum Verstummen gebracht, hebt wieder zu singen an. Mit einer spritzigen wie melancholischen kleinen Komödie für Musik lädt sie in ihr Ausweichquartier im Staatenhaus, und wer große Augen machen will und große Ohren hat, sollte der Einladung folgen, sofern sie nach der letzten der sieben Aufführungen am 22.06. 2021 demnächst neuerlich auf dem Spielplan erscheinen wird.
Zunächst sei ein bisschen Wissenschaft angeboten: MAZELTOV, RACHEL’E hat im Yiddischen viele umgangssprachliche Bedeutungen wie auch: “Viel Glück, Rachele“. Riemanns Musik Lexikon deutet die "Farce" u.a. als: “Selbständiges Bühnenstück mit eingelegten bekannten Chansons.“. "Farce" wird später in Italien zur "Farsa" wie z.B. Gioachino Rossinis Il Signor Bruschino.
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Was also bietet unsere "Farce"?
Die jüdische Sängerin Lea erhält in der Nacht des Pessach Festes Besuch ihrer Vorfahren. Es sind weibliche Gespenster in Begleitung männlicher, die sich in der Kölner Wohnung der Künstlerin ein Stelldichein geben, und worin sie gar nicht geisterhaft, vielmehr als ganz und gar menschliche Wesen auf recht handfeste Weise miteinander Umgang pflegen. Mit der deutschen, der jiddischen oder gar hebräischen sowie mit der Sprache ihrer Körper schlagen sie die alten Schlachten und ziehen sie in neue, singend und tanzend bereiten sie damit Auge und Ohr ein sinnliches, ausgelassenes und komisches Spektakel. Ein Spiel, in dem es um nichts sonderlich Weltbewegendes zu gehen scheint, das aber auf einem brüchigen Boden stattfindet, unter dem sich eines Tages ein Abgrund auftun wird. Hinter allem Wohlklang und aller Kuriosität stehen Menschen, nach denen die Zuschauer wissbegierig fragen müssten: „Woher kommen sie“, und hernach beklommen: „Wo sind sie geblieben?“
In der Sängerin Lea Behausung, schlicht repräsentiert auf offener Rundbühne mittels weniger Signifikate wie Bett, Sofa, Küchentisch, Schränke, Badewanne und Klosett, erscheint als erste Ahnfrau deren Ururoma Rachel’e, eine gefeierte singende Diva der vorletzten Jahrhundertwende in demgemäßem Aufputz. Dazu gesellt sich Lea 2, die junge Ururenkelin, die sich tänzelnd und tanzend, doch stets wortlos durch die Einheitsszene von vorn bis hinten bewegt. Wenn der aus Küchendampf zu einem von Rachel’es Ehemännern materialisierte Geiger Leyser Janowski aus einem Küchenschrank kriecht, hält Leas 2 Schweigen an, der Sprache ihrer Altvorderen ist sie wohl nicht mehr mächtig. Aus weiteren Nebelwolken steigen die spinnenphobische Uroma Gisse, der Schächter Israel Teitelbaum, und sogar Abraham Goldfaden taucht auf, ein historischer Komponist, der auch seinen Teil zu dieser Burleske beiträgt. Das heitere, groteske und bisweilen giftige Miteinander, Gegeneinander und Durcheinander der Frauen und der ihnen beigeordneten Männer verantwortet die Musik, ein Potpourri aus Liedern, Operettenchanson und Walzern jüdischer Komponisten, die bei uns, von dem Berliner Leo Fall vielleicht abgesehen, unbekannt geblieben ist. Eine Hymne auf den österreichischen Strudel wird angestimmt, die Knödel werden besungen, ein „Schlaf Ydele, schlaf“ dämpft die Affekte und erst mit den wehmütigen Tönen eines „Was gewesen ist, ist gewesen, ist vorbei“ kommen die Affekte temporär zur Ruhe, kommt so etwas wie Besinnung auf, in der Erinnerung glänzen alte Geschichten, auch wenn es oft Falschgold ist.
Des Autors und Regisseur (Christian von Götz) Farce entspringt der Absicht, nachdem er in fernen und nahen Archiven Schätze uns durchwegs unbekannter Musik gehoben hatte, daraus manche Juwelen eben mittels eines Possenspiels um eine ältere, in Deutschland lebende jüdische Sängerin zu präsentieren. Das nächtliche Gastspiel der Ahnen und deren groteske Begegnungen werden von der Musik getragen, die wie Blut das Geschehen durchströmt und zum Leben erweckt. Ihre jüdischen Komponisten stammen aus dem Osten Europas mit seiner einst blühenden jüdischen Kultur, deren Stifter sich vielmals der bescheidenen und teilweise armseligen Lebensbedingungen wegen zum Verlassen der Heimat und häufig zur Auswanderung nach Übersee gezwungen sahen. Sie hierzulande mittels des Theaters wieder in das musikalische Gedächtnis eingetragen zu haben, dafür sollte dem emsigen Schatzgräber und Stückeschreiber ein Lob gesungen werden.
Reuben Doctor, Louis Friedsel, David Meyerowitz sowie der bereits erwähnte Abraham Goldfaden sind ein paar Namen aus der Gruppe von rund fünfzehn der dort in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geborenen Notensetzer. Aus ihrem komplexen Oeuvre zitiert der Autor mannigfache Nummern, deren vertonte Texte er vielfach umgeschrieben hat, um sie vorwiegend auf Jiddisch, aber auch auf Hebräisch und Deutsch – für Lea 2 wie das Publikum eher verständlich – vortragen zu lassen.
Als Oberhaupt des Gespensterreigens fuhrwerkt die grandiose Dalia Schächter in der Doppelrolle der Lea 1 und Rachel’es, mit Bravour in allen drei Idiomen singend sprechend und fluchend, durch die Szene. Derartigem Elan sind die anderen Geister nicht so recht gewachsen, obschon durchaus lebhaft, wirken sie zwangläufig ein bisschen ärmer an Temperament. Dennoch sind gleich der Ururoma die übrigen Geschöpfe der Nacht ebenso hinreißend anzuschauen und anzuhören wie der Gesang und die Aktionen ihrer leicht überdrehten Tochter und Leas 2 Uroma Glisse (Claudia Rorbach). Die stets stumme Ururenkelin Lea 2 (Verena Hierholzer) springt, schwebt und hüpft anmutigst nach Ballerinenart in dem gutbürgerlichen Ambiente kreuz und quer von der Lokusschüssel bis zur Küchenzeile. Neben der dominierenden Weiblichkeit behaupten sich mit Verve die Männer, freilich begeistern die tenoralen wie tiefer gelegenen Canzonen des besessen fidelnden Exgatten Leyser Janowski (Dustin Drosdziok), des Schächters Israel Teitelbaum (Stefan Hadzic) und des Abraham Goldfaden (Matthias Hofmann) offenbar weniger die drei Damen denn das Publikum. Musikalisch an die Hand genommen wird das Sextett von Mitgliedern des Gürzenich-Orchesters und seinen Gästen unter der Leitung von Rainer Mühlbach, die allzeit dem Charakter der Nummern angemessene schmissige, sentimentale und zudem die Töne dazwischen finden.
Pascal Seibicke hat das Äußere der Possenspielerschar gleich typisch gestaltet wie den Ort der Handlung, die sich aus angezettelten und ausgetragenen, aus wesentlichen wie unwesentlichen Konflikten zusammensetzt, die indessen das jüdische Sein in einer ihm nicht überall wohlgesonnenen Umgebung reflektieren. Bei allem durch die Überzeichnung, die charakterisierende Musik und die Kunst der Künstler erzeugten Pläsier von Zuschauern und Zuhörern, gleichwohl kann man mit Aufmerksamkeit sich Schatten auf das heitere Treiben legen sehen. Und spüren. Ruft doch einmal die Sängerin Rachel’e zornig: „Sollen wir uns in Asche verwandeln und durch den Schornstein hochfliegen?“ Überwältigend und makaber zugleich ist ihr Schlussauftritt, wenn sie mit der Attitüde des hochdramatischen Soprans die Isolde des bekennenden Antisemiten Richard Wagners parodiert. Verlangt hernach obendrein die Ahnenreihe lautstark danach, Wagners Werke nunmehr auf Yiddisch zu singen, dann klingt das zwar urkomisch, nahezu absurd, allein zum Lachen ist das nicht unbedingt.
Aufgeführt wird die Farce, wie im Programmheft abgedruckt, anlässlich des Jubiläums >1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland<. Wer in das Buch schaut, worin dessen Geschichte aufgeschrieben steht, wird nicht sehr viel von harmonischem Nebeneinander, eher von Duldung, mehr von Unterdrückung, Rechtlosigkeit und vor allem von Mord lesen. Kommt es dann nicht einem Wunder gleich, wenn es in Deutschland ein – obwohl immer gefährdetes!– jüdisches Leben gibt, das uns an seiner Vergangenheit und Jetztzeit zu vergnüglicher wie nachdenklicher Erbauung teilhaben lässt?
Das Publikum im Staaten Haus ist von den anderthalb Stunden des Abends vernehmbar angetan und geizt nicht mit Beifall für eine rundum exzellente Aufführung.
Am Ende stehen ein Wunsch und eine Frage:
Die Sprechpartien dürften kaum darunter leiden, sollten sie ein wenig lauter und artikulierter exekutiert werden.
Ließe sich anlässlich des angesagten Jubiläums 2021 die stets fragile Symbiose von Juden und Deutschen von Seiten ihrer Mäzene nicht auch dadurch befördern, dass diese das bravouröse Stück, ehe es ein für allemal (?) in der Versenkung verschwindet mittels einer CD / DVD allgemein zugänglich machen und mithin verewigen würden ?
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