ORPHEUS  –  MYTHOS oder WAHRHEIT, IOCO Essay - Teil 1, 01.05.2021

ORPHEUS  –  MYTHOS oder WAHRHEIT, IOCO Essay - Teil 1, 01.05.2021
Der Tod des Orpheus © Wikimedia Commons - ArchaiOptix
Der Tod des Orpheus © Wikimedia Commons - ArchaiOptix
ORPHEUS  –  MYTHOS oder WAHRHEIT

IOCO Serie -  von Peter M. Peters

Teil 1 - Der orphische Weg

Orpheus: Ein Mythos und ein Name. Aber was verbirgt sich hinter diesem Mythos, hinter diesem Namen? Die Etymologie der Eigennamen ist immer unumschränkt. Aber man kann dies vorschlagen: Die Wurzelform im Altgriechischen setzt Begriffe zusammen, die sich auf die Nacht beziehen, wie Orphnos und Orphne (Nacht, Dunkelheit) oder Orphos (Seefisch, der unter den Felsen versteckt lebt). Aber was in Griechenland (wie folglich auch im Abendland) den Ruhm und die Beständigkeit von Orpheus sicherstellte, war genau diese Bestimmung, die ihm zugeschrieben wurde, um den Tod durch seine Lieder auszutreiben, lebendig in die Hölle herabzusteigen und dann wieder unversehrt aufzusteigen. Nachdem er gewusst hatte wie man sich der Dunkelheit stellt und sie besiegt, nahm er die Gestalt des Eingeweihten, des Meisters des Jenseits und des Botschafters der Unsterblichkeit an.

Seine Funktion als Dichter, sagen wir mal als Zauberer, leitet seine Stärke und Bedeutung daraus ab: Die Gedichte, die Musik, die Botschaft des Orpheus bezauberte die Menschen nicht nur um sie mit ihrer magischen Kraft zum Einschlafen zubringen, sondern im Gegenteil um sie zu erwecken,  um sich selbst zu offenbaren, indem sie den Weg zur Unsterblichkeit finden. Es ist nichts weniger als diese Botschaft, Träger einer einzigartigen und wahnsinnigen Hoffnung – und einem großen Teil der antiken Welt völlig fremd – von der verschiedenen, orphisch genannte Dokumente zeugen.

Bei diesen Dokumenten handelt sich es in erster Linie um Goldblätter oder Goldlamellen, die in Gräbern in Griechenland und Großgriechenland gefunden wurden. Einige stammen aus dem 5. Jahrhundert v. Chr., andere aus dem 3. Jahrhundert n.Chr.. Sie sind auch Fragmente von Hymnen, Gebeten, Ritualen, die von den Kirchenvätern aufbewahrt und zitiert wurden (im Allgemeinen um die orphische Religion zu bekämpfen oder zu verspotten!), sowie Passagen aus alten Theogonien und Kosmogonien, die von vielen gesammelt und zitiert wurden, von heidnischen Autoren, insbesondere den Neuplatonikern. All dies ist ein buntes Mosaik aus Texten und Zitaten, das von wenigen Wörtern bis zu einigen Zeilen reicht. Es handelt sich um sehr fragmentierte Teile eines Puzzle, die nur schwer oder gar nicht aneinander ähneln. Bestimmte Formeln, Bilder und Metaphern, die wir in allen Texten und Jahrhunderten als identisch empfinden, erlauben es jedoch, etwa eine bestimmte Vorstellung von dem zu bilden, was Orphismus sein könnte. Versuchen wir es zu er klären!

Orpheus spielt auf der Leyer - Antakya Archaeological Museum © Wikimedia Commons / Dosseman
Orpheus spielt auf der Leyer - Antakya Archaeological Museum © Wikimedia Commons / Dosseman

Das kosmische Ei

Noch bevor die Welt zu existieren begann erschien eines Tages in der unbeschreiblichen und unbestimmten Ausdehnung eines gespaltenen Abgrundes (das Chaos), ein silbernes Ei, das schon alle Möglichkeiten der zukünftigen Welt in sich  trug. Dies Ei erschien von selbst oder wäre nach anderen Versionen des Mythos aus der Liebe der Nacht und des Wind geboren und erschien daher kurz zuvor. Zentral ist jedoch, dass das Ei, als es erschien (oder gelegt wurde), in zwei Teile geteilt wurde: die obere Hälfte wurde zum Himmel, die untere Hälfte zur Erde. Zur gleichen Zeit, als diese Spaltung stattfand, sprang ein glanzvolles leuchtendes Wesen aus dem Ei, das die erste göttliche Einheit bilden sollte.

Entsprechend den gesammelten Varianten lautete der Name dieser Entität Phanes, Protogonos, Metis, Eros oder Erikepaios. Lassen wir uns nicht von der Fülle der Namen überraschen: alle bezeichnen sie den einen, den einzigen Gott oder ein einziges Gründungsprinzip. Es drückt die unterschiedlichen und vielfältigen Funktionen aus, die ein ursprünglicher und einzigartiger Gott zwangsläufig vereinen und ausüben muss, wenn er die Welt erschaffen will. Hinter den oben genannten Namen verbirgt sich also eine einander folgende verborgene Vorstellung von manifestiertem Licht, Ursprünglichkeit, Intelligenz, Begierde, Impulse.

Nehmen wir Phanes und Protogonos:  Phanes stammt vom Verb phaino, bedeutet zu leuchten, zu erscheinen, sich zu manifestieren (und das dreißig oder fünfunddreißig  Jahrhunderte später in dem Wort Phänomen wieder erscheint und umso mehr  in der Phänomenologie andauert!). Phanes bedeutet daher, dass er, der Erscheinende, der Brillante, der Manifestierte, der im Licht verhärtet, androgyn ist; wie alle Urgötter! Der durch das Erscheinen auch die Welt erscheinen lässt, die latente Welt, die Welt die bis dahin  im kosmischen Ei enthalten und versteckt war. Ebenso bedeutet Protogonos wörtlich Erstgeborener, derjenige, der keinen Vorfahren hat, der im Gegenteil der Vorfahre, der Ursprüngliche schlechthin ist. Das ursprüngliche Prinzip des Universums! Diese letzte Vision ist wichtig, weil sie nichts mit der klassischen Mythologie zu tun hat, die zur Zeit der orphischen Religion verwendet wurde. Für sie wurde das Universum nicht schrittweise durch eine Reihe von Kämpfen zwischen elementaren Energien und dann zwischen Göttern und Titanen, Göttern und Riesen geschaffen, um in der befriedeten und humanisierten Welt der Olympier zu enden. Nein, sondern nach einem genau entgegengesetzten Prozess: Durch Ausschlüpfen oder durch Explosion – unabhängig von der Langsamkeit oder Schnelligkeit, die man dem Prozess verleiht – wird das ursprüngliche Ei, das sich in Raum und Zeit verteilt und so ein vitellus vitae erzeugt. Dieser Rückgriff auf das Ei zur Erklärung des Ursprungs des Universums erklärt übrigens den geflügelten Charakter dieser Urgötter; Phanes, der Wind, die Nacht.

Wenn der Mensch am Ende dieses Prozesses erscheint, ist er das ultimative Ergebnis, Produkt dieses Zerspringens. Er wird aus einem Bruch, einem kosmischen Bruch geboren; aus einem Zerfall der ursprünglichen Substanz des Ei. Zerbröckelnd, welches wir de visu sehen können, während wir den Nachthimmel betrachten. Waren diese Tausenden von funkelnden Sternen nicht die Flammen, die Nächtens über unzählige noch immer lodernde Funken des ursprünglichen Licht und  Glühen hinweisen, mit anderen Worten Phanes? Und erstreckten sich diese langen Filamente nicht unter dem Nachtgewölbe und umrissen die Milchstraße in den himmlischen Spuren für den Beweis  des milchigen Inhaltes des kosmischen Ei? Wie kann man dann nicht das Gefühl haben, in diese Welt der Trennung und des Zerfalls geworfen, zerstreut, vertrieben zu sein, wie kann man den menschlichen Zustand nicht als ungerechtes und tragisches Exil außerhalb der Matrix und der Fülle  des Ursprunges verstehen?

Diese Vision, wir müssen uns im Klaren sein, erscheint niemals so klar oder rational in den Textfragmenten, die uns verbleiben. Wir können dies nur aus vorhandenen Fragmenten ableiten. Die in diesen Texten vorgestellten Varianten stellen jedoch die oben vorgeschlagene globale Vision nicht in Frage. Sie unterscheiden sich in der genauen Reihenfolge der Schöpfung und insbesondere in den Genealogien, die aufgerufen sind, einander zu folgen, bis sich der Prozess vollständig stabilisiert hat. Verarbeiten wir es noch einmal und fassen es zusammen, indem wir sagen: Das nach dem ursprünglichen Erscheinen von Phanes / Protogonos hat letzterer die Nacht in drei verschiedenen Formen oder Hypostasen (Nacht, Ordnung, Gerechtigkeit) hervorgebracht, um sich dann mit der Jüngsten von ihnen vereinte, um Ouranos (der Himmel) zu erzeugen. Der wiederum gibt Cronos (die Zeit) das Leben und dieser zeugt Zeus. Der Gottvater bringt seinen Sohn Dionysos zur Welt.

Orphische Hymne - Johannsson youtube Theatre Of Voices - Thema [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]

Die Mahlzeit der Titanen

So bleibt die wesentliche orphische Frage: Ist es dem Menschen, der aus einem solchen Prozess resultiert, möglich, diese tragische Bindung  zu beheben, etwa über den Zustand der Ursprünge und insbesondere über das Versprechen der Unsterblichkeit, das dem Menschen gegeben wurde?

Um eine solche Frage zumindest teilweise zu beantworten, müssen wir auf einen orphischen Mythos zurückgreifen, der das Einzigartigste und Beunruhigteste ist, nämlich die Zerstückelung und den Konsum von Dionysos durch die Titanen. Dionysos ist mit Phanes ein sehr wichtiger Gott in der orphischen Mythologie. Sieben Hymnen sind ihm auch unter verschiedenen Namen gewidmet. Der fragliche Mythos betrifft Dionysos als Kind. Lassen sie uns nebenbei bemerken, dass sich  selten die alten Mythen  für Götterkinder interessieren, das heißt für die Kindheit eines Gottes. Dies hat mehrere Gründe, angefangen mit der Tatsache, dass die Götter im Allgemeinen dem üblichen Wachstumsprozess entkommen, weil sie von Geburt an eine überraschende Frühreife aufweisen. Am Morgen geboren, spielte er mittags die Zither und stahl am Abend die geweihten Kühe von Apollo, sagt die Hymne, die Hermes gewidmet ist.

Dionysos, er war wie seine orphische Hymne sagt, vom Blitz getroffen, d.h. es war der feurige Blick von Zeus gemeint. Seine Mutter Semele hatte Zeus, ihren Geliebten, gebeten, sich ihr in seiner ganzen göttlichen Pracht zu zeigen. Wenn sie jedoch Sterblichen erscheinen, zeigen sich die Götter niemals in ihrer völlig göttlichen Form, weil die Menschen den Anblick noch das grelle Licht von ihnen nicht ertragen können. Aber Semele bestand darauf, das Zeus ihr gehorchte: Er zeigte sich in seiner ganzen göttlichen Form und Semele fiel tot zu seinen Füssen. Als sie aber im sechsten Monat schwanger war, nahm Zeus den Fötus aus ihrem Leib und nähte ihn in seinen eigenen Oberschenkel. Drei Monate später war sein Sohn geboren und Zeus gab ihm den Namen Dionysos, was nach einer der vorgeschlagenen Etymologien den zweimal geborenen Gott bedeuten würde.

Eine solche einzigartige Geburt konnte Dionysos nur für eine außergewöhnliche Zukunft prädestinieren, mit der die Titanen, die ihm auf Erden vorausgegangen waren, Anstoß nahmen: Sie befürchteten, dass der Neuankömmling sie in ihrer Macht und ihren Privilegien berauben würde. Nachdem sie ihr Gesicht mit Gips unkenntlich machten, näherten sie sich dem göttlichen Kind und gaben ihm Spielzeug, um seine Aufmerksamkeit zu erregen: Ein Kreisel, eine Raute, Gelenkpuppen, Knöchelchen und einen Spiegel. Letzterer faszinierte Dionysos besonders, denn als er  hineinschaute und sein eigenes Bild sah, verliebte er sich in sich selbst. Die Titanen nutzen diese Gelegenheit um es zu ermorden, zu zerstückeln, die Stücke zu kochen und danach am Spieß zu braten. Nur das Herz konnte diesem Verbrechen entkommen, wodurch Zeus einige Zeit später Dionysos wiederbeleben konnte!

Der Triumph der Titanen hielt nicht lange an. Zeus wurde über ihre Verbrechen informiert, schlug sie sofort nieder und reduzierte sie zu Asche. Aus dieser Asche wurde die Menschheit geboren.  Dies ist ganz klar eine Geschichte der Anthropogenese, die auch – aber auf eine ganz andere Weise als die vorherige Geschichte – den Ursprung und insbesondere die Gründe für den unvollkommenen Zustand des Menschen erklärt. Aus der Asche der Titanen, die gerade Dionysos eingenommen hatten, hält er einen unreinen titanischen Teil der irdischen Natur und einen reinen dionysischen Teil der himmlischen Natur. Der erste ist weitaus wichtiger als der zweite und wir verstehen sofort, was die Aufgabe des orphischen Menschen ist: In ihm seinen titanischen Teil zu reinigen und seinen dionysischen Teil zu erhöhen, den einzigen, der ihm Unsterblichkeit sichern kann. Mit anderen Worten, um das Leben zu führen was hier genannt wird – was insbesondere Platon (428/427 v. J.C.-348/347 v. J.C.) nannte – das orphische Leben.

Antiker Sarkophag welcher Orpheus mit Leier abbildet © Wikimedia Commons / Marsyas
Antiker Sarkophag welcher Orpheus mit Leier abbildet © Wikimedia Commons / Marsyas

Das orphische Leben

Orphisches Leben - Orphikos Bios. Woraus bestand es? In einem wichtigen Punkt stimmen alle Dokumente überein: Die Orphischen waren Vegetarier! Es ist sicherlich diese Gemeinde, von der Platon in seinem Werke Gesetze (Nomoi) sprach: ... wo das Fleisch von Ochsen nicht geschmeckt wurde und wo auf den Altären niemals Tiere geopfert wurden. Die einzige Opfergabe bestand aus Kuchen und Obst, das man mit Honig übergoss. Sie haben auf alles fleischiges Essen verzichtet, weil es ihrer Frömmigkeit widersprach. Alles was lebte war zur Verzehrung verboten! Platon scheint sich hier auf eine mythische Vergangenheit zu beziehen, als ob diese Gemeinschaft zu einer vergangenen Ära gehörte. Jedoch war dies nicht der Fall, da sich der Orphismus in Griechenland und im Mittelmeerraum bis in die ersten Jahrhunderte des Christentums entwickelte und bestand.

Also, erstes Prinzip und erstes Verbot: Niemals essen, was Leben hat und Vegetarismus praktizieren! Vegetarier zu sein ist heutzutage eine weit verbreitete Praxis. Niemand riskiert sein Leben oder seine Freiheit, indem er auf Fleisch verzichtet. Aber im alten Griechenland war es überhaupt nicht dasselbe. Denn hier wurden die Opfertiere nach der Zeremonie sofort zur Verzehrung verteilt. Es ist streng genommen keine Gemeinschaft mit Gott, sondern ein ritueller Austausch zwischen den Gläubigen und der Göttlichkeit, der die Beziehungen zwischen ihnen, einschließlich ihrer  Stadtobrigkeit, begründete und besiegelte. Fleisch nicht konsumieren und sich zu weigern, an offiziellen Opferritualien teilzunehmen, bedeutete, sich wie ein aufsässiger Gegner zu verhalten. Marcel Detienne (1935-2019) hat daher tausendmal recht in seinem Werk Dionysos mis à mort (1977) zu schreiben: ...dass die Art des Lebens, das orphisch genannt wird, nicht auf einen einfachen Vegetarismus zu reduzieren ist: Auf Fleisch zu verzichten ist in einer antiken griechischen Stadt eine höchst subversive Handlung!

Wir können bereits an diesem einfachen Verbot erkennen, dass es nicht unbedingt einfach war, ein Orphischer zu werden. Auf jeden Fall sollte es nicht einfach sein, an Mythen festzuhalten oder einen einfachen religiösen Glauben zu haben: Dies implizierte eine Verpflichtung, die die Gläubigen radikal von ihren Mitmenschen und ihrer Stadt trennte. Ein anderes weniger ernstes Verbot: Die Wolle! Wolle ist eine Substanz, die einem lebendigen Tier entnommen wurde und ist somit gleichzeitig ein lebendiges Material. Sie werden daher nur Hanf- oder Leinenkleidung tragen, aber keine Wolle. Ebenso – aber wiederum ohne ernsthafte soziale Auswirkungen – sind Eier und Bohnen verboten. Viele Orphische gingen barfuß, ohne das man Verdacht schöpfte, ob dies während einer religiösen Zeremonie stattfand oder nur einfach bei alltäglichen Beschäftigungen. In dieser Hinsicht ähnelte das Verhalten und die Lebensregeln der Orphischen dem der Pythagoräer, mit denen sie außerdem vieles andere gemeinsam hatten.

Wir erwähnten hier die Pythagoräer! Wir wissen mit Sicherheit, dass letztere in strengen Gemeinschaften lebten. Hatten die Orphischen auch eine Gemeinschaft, wir meinen eine Gemeinschaft, die für andere völlig verschlossen war? Dies ist eine Frage, auf die wir leider nur ungewisse Antworten haben! Das einzige, was bezeugt wird – aber erst im 4. Jahrhundert v. Chr. - ist die Existenz von Propheten und Wanderbettlern, die behaupten Orphische zu sein und die von Stadt zu Stadt gingen und Rezepte für Unsterblichkeit anboten. Die alten Autoren nannten sie OrpheotelestesOrphischer Eingeweihter. Sie schienen von ihren Zeitgenossen, von Platon bis Plutarch (ca. 46 - ca. 125 n. Chr.), kaum geschätzt worden zu sein. Alle beschrieben sie als Betrüger, die die Leichtgläubigkeit der Menschen und ihren Geschmack für Aberglauben ausnutzten.

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Scharlatane und sogenannte Wahrsager, die die Häuser der Reichen belagern, schreibt Platon in Die Republik (Politeia) und ist überzeugt, dass sie oder ihre Vorfahren einen schweren Fehler begangen haben und dass sie sich durch Opfer und Verzauberung davon reinigen müssen. Und weiter: Diese Menschen missbrauchen nicht nur Einzelpersonen, sondern ganze Städte, indem sie glauben, dass die Fehler der Lebendigen und der Toten durch Geschenke, Spiele und das, was sie Einweihungen nennen, verbüßen können.

Was Plutarch betrifft, er berichtet von einem lehrreichen Dialog zwischen dem König Leotychidas II (545-469 v. Chr.) von Sparta und einem Orpheoteleste, der ihm die Einweihung anbot, unsterblich zu werden. Der König schaute auf die Lumpen seines Besuchers und antwortete ihm: Wenn Du die Macht hast, Unsterblichkeit zu erlangen, worauf wartest Du noch, Dummkopf. Nutze es selbst aus, indem Du sofort stirbst, anstatt diese elende Erdenleben weiter zu führen?

Aber zurück zum orphischen Mythos von Dionysos. Wir können sehen, was dies impliziert, was sich radikal von den in den griechischen Städten gebräuchlichen Mythen unterscheidet. Aus der Asche der niedergeschlagenen Titanen wurde der Mensch durch einen abscheulichen Mord geboren, von dem er noch immer die Spuren und Folgen in sich trägt. Es ist hier nicht unbedingt eine Frage der Ursünde, jedoch muss man zu geben, das wir nicht sehr weit davon entfernt sind. Vielmehr sprachen die Orphischen von einem ursprünglichen Makel oder einer Unreinheit, einem Makel, den nur das orphische Leben und die Einweihung mildern oder beseitigen konnten. Für sie war eines der klarsten und greifbarsten Zeichen: sema und die Unreinheit des Körpers soma , den sie für das Gefängnis, für das Grab hielten und sema der Seele. Diese Wortspiele waren in den alten antiken Gesellschaften üblich, da sie eine echte Verwandtschaft zwischen ihren Sinnen anzeigten. Wenn die Wörter zusammenkommen oder sich phonetisch ähneln, liegt dies daran, dass eine Verbindung zwischen ihnen besteht, eine geheime Allianz, die viel mehr als eine einfache Homophonie ist. Dies war auch der Fall zwischen den Wörtern gnosis – Wissen und genesis – Geburt, eine Beziehung, die auf Deutsch durch die Verknüpfung von Geburt und Mitgeburt veranschaulicht werden kann. So ist unter den Orphischen die Verwandtschaft zwischen dem Wort soma (der Körper) und dem Wort sema (das Grab): Der Körper ist ein Grab, in dem die Seele eingeschlossen ist und nur die telete, die Einweihung wird es befreien können.

Wir können sehen, dass der Orphismus nichts mit den traditionellen religiösen Praktiken der Griechen zu tun hatte. Inspiriert von einem wirklichen und tiefen Bedürfnis nach innerer Reinheit, nach Kenntnis des Ursprungs und des wirklichen Zustandes des Menschen und vor allem nach dem Streben der Unsterblichkeit, schlug er seinen Anhängern vor, genau wie Orpheus zu tun: Der Versuch, den steilen aber rettenden Hang hinaufzugehen, der von der Dunkelheit des körperlichen und irdischen Lebens zum himmlischen Licht führt. Kurz gesagt, um Gott zu werden oder wieder zu werden! Nicht mehr und nicht weniger!   PMP-15/03/21-1/6

Teil 2  - Orpheus - ihn umgebende Legenden - folgt am 8.5.2021

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