Berlin, Berliner Ensemble, Caligula von Albert Camus - Grotesk Unheimlich, IOCO Kritik, 03.01.2018
Caligula von Albert Camus
Caligula: "Regieren heißt stehlen, das weiß jedes Kind"
Von Anna Moll
Mit Caligula von Albert Camus in der Regie von Antú Romero Nunes läutete das Berliner Ensemble die Ära von Intendant Oliver Reese ein. IOCO war dabei, Anna Moll begeistert.
Noch als Schüler wurde Albert Camus Suetons Leben der Caesaren von seinem hochverehrten Lehrer Jean Grenier nahe gebracht. Die Figur des Caligula faszinierte ihn von Anbeginn und ein erster Entwurf zur Stückthematik findet sich 1937 in seinem Tagebuch. Über Jahre arbeitete er an der Niederschrift. Die 1941 entstandene Erstfassung überarbeitete Camus erneut, da sich seine Sicht der Thematik und der Figur durch die Erfahrung von Faschismus, Besatzung und Widerstand verändert hatte. 1945 wurde das Stück mit Gérard Philipe in der Hauptrolle aufgeführt.
Nunes vermeidet es, politische Assoziationen historischer oder aktueller Art auszuspielen. Was vor unseren Augen entrollt wird, gleicht eher einem Horrorcomic und entfaltet im Grotesken das Unheimliche und im Unheimlichen das Groteske. Das Stück ist gekürzt, die Hauptfigur, Caligula, der Kaiser, ist mit der großartigen Constanze Becker besetzt, seine Geliebte Caesonia mit Oliver Kraushaar. Die Anzahl der Patrizier ist auf einen einzigen – die geschlechtslos-harlekinhafte Annika Meier reduziert. Den treuen Diener Helicon gibt Aljoscha Stadelmann in clownshaften, ausgebeulten Pluderhosen mit staubig-weißgepudertem, schwabbeligem, doch auch kräftig wirkendem Oberkörper, Felix Rech ist Cherea, Patrick Güldenberg Scipio, ebenfalls weißgepuderte, clownshafte Gestalten.
Bevor Caligula auftritt, stehen die anderen zunächst wie die erschöpften, armseligen Mitglieder eines abgewrackten Zirkusunternehmens vor dem roten Vorhang und zerbrechen sich den Kopf über den Verbleib des Kaisers, taumeln und purzeln durcheinander und finden - Nichts. Beckers Caligula sticht ab vom elenden Clownsensemble. Beckers Kopf mit künstlicher Glatze ist weiß geschminkt, die Augen blutunterlaufen, sie steht da im weißen Hemd, darunter etwas, das langen weißen Altmännerunterhosen gleicht. Ein geschlechtsloses, altersloses Wesen, ein wenig an eine Figur von Samuel Beckett erinnernd. Etwas Hartes, Kaltes, aber auch Tragisches ist an ihr.
"Die Menschen sterben, und sie sind nicht glücklich." Der Tod seiner inzestuös geliebten Schwester Drusilla hat in Caligula einen Prozess freigesetzt: "Diese Welt ist so, wie sie ist, nicht zu ertragen." Mit dieser Erkenntnis wird für Caligula alles möglich, vor allem, sich zu erheben über alles und jeden, inklusive der Götter, die er in ihrer Grausamkeit übertreffen will. Er fühlt sich frei, jede nur erdenkliche Grausamkeit zu begehen. Der Wunsch nach dem Vollkommenen, symbolisiert im Mond, zeigt die unendliche Hybris und gleichzeitig die unstillbare Sehnsucht des Kaisers. Vielleicht ist es nicht unerheblich, daran zu erinnern, dass im Französichen der Mond weiblich ist und insofern die Sehnsucht nach la lune auch die unerfüllbare Sehnsucht nach der toten Schwestergeliebten mitschwingen lässt.
Beeindruckend ist Constanze Becker, wenn sie, bald nachdem sich der Vorhang gehoben hat, sich den blutroten Herrscherumhang überwirft und auf der dunklen Bühne, nur von einem Lichtstrahl beleuchtet, Friedrich Holländers "Wenn ich mir was wünschen dürfte" singt, ein bitter-süßes, todtrauriges Lied über die Ambivalenz von Glück und die Fährnisse des Lebens. Diese Szene, im Original nicht enthalten, ist daher zu verstehen als eine interpretative Assoziation des Regisseurs zum Charakter des Caligula. Hier vermittelt sich bereits das außerordentlich verstörende Gefühlsgemisch, das Beckers Caligula in sich trägt: tiefe Verzweiflung, Verlorenheit, Verachtung, größenwahnsinnige Mordgelüste.
Dieser Caligula ist von einer eiskalten teuflischen Logik, allen im Argumentieren überlegen. Mit absolut schneidender Logik kann er etwa dem Patrizier nachweisen, warum es absolut folgerichtig und unabänderlich sei, wenn dieser jetzt und sofort getötet werden müsse. Caligula ist angewidert von den Heucheleien seiner Umwelt. Sein Ekel und Spott gehen soweit, dass er vorschlägt, sich Masken aufzusetzen, bevor man ehrlich miteinander rede.
Dieser Caligula ist ein ungreifbares Wesen, mal altersloser Mann, mal Diva, mal bezopftes, kniebestrumpftes Mädchen, das Ave Maria auf einer Flöte daherstümpernd, mal kettensägenrasselnd. Ein großer Auftritt (gleichzeitig ein Höhepunkt der Kostümbildnerin Victoria Behr) gelingt Becker, wenn sie ihren Tanz als Venus vorführt, gehörnt, auf Kothurnen mit haarig-pelzigen Fesseln, mit Bewegungen wie in Trance, wie nicht von dieser Welt, gleichzeitig ein hochgefährliches Tier.
Alle Schauspieler überzeugen in ihren Rollen und haben jeweils faszinierende Momente. Besonders zu erwähnen wäre Oliver Kraushaar als Caesonia, der in dieser eher Grand- Guignol-haften Inszenierung auch die rührend liebenden Anteile der Figur erahnen lässt. Aus dem großartig grotesken Regieeinfall, bei ihrer Ermordung durch Caligula Caesonia ihren letzten Atemzug auszuhauchen zu lassen, indem ein von ihr aufgeblasener herzförmiger roter Luftballon zerplatzt, macht Kraushaar einen sehr prägnanten Augenblick auf der Bühne. Ebenso Aljoscha Stadelmann als Helicon, der in seiner Verachtung der Patrizier zu Caligula hält und dem es mit äußerster Mühe gelingt, den Mond für seinen Herren an einem Seil herbeizuschleppen. Die gewaltige Anstrengung erweist sich als vergeblich – Caligula, für einen kurzen Moment im Besitz des Vollkommenen, Unerreichbaren, entgleitet das Seil...
Camus setzt sich nicht nur mit der Gestalt des Tyrannen auseinander. Das Stück stellt auch die Frage, warum niemand den Tyrannen aufhält, allerhöchstens erst dann, wenn er selbst betroffen ist. Nunes vertieft diesen Ansatz nicht allzu sehr, er entwickelt eher den eingangs erwähnten Horrorcomic, eine bösartig-groteske, sinnlose Welt entsteht, der wir uns vielleicht entziehen zu können glauben. Doch der Schluss dieser Inszenierung ist provozierend: der rote Vorhang hat sich bereits geschlossen, nur noch Caligulas blutverschmierter Kopf ist zu sehen, der spricht: "Caligula ist nicht tot!"
Bleiben wir passiv, könnte sich unsere Welt erneut als Horrortheater erweisen
Caligula am Berliner Ensemble: Weitere Vorstellungen 13.01.2018, 14.1.2018, 1.2.2018, 18.2.2018
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