Nancy, Opéra national de Lorraine, DER SILBERSEE - Kurt Weill, IOCO

KURT WEILL: Kurt Weill (1900-1950) emigrierte im März 1933 nach Paris… Weill wurde 1900 in Dessau geboren und studierte an der Akademischen Musikhochschule in Berlin. Er traf Bertolt Brecht (1898-1956) im Jahr 1927 und kreierte mit ihm ......

Nancy, Opéra national de Lorraine, DER SILBERSEE - Kurt Weill, IOCO
Opéra national de Lorraine in Nancy © Opéra national de Lorraine

 Kurt Weill: DER SILBERSEE (1933), Ein Winter-Märchen in drei Akten mit einem Libretto von Georg Kaiser.

 von Peter Michael Peters

EIN MEISTERWERK FÜR UNRUHIGE ZEITEN…

BALLADE VON CÄSARS TOD

Rom war eine Stadt und alle Römer

Hatten in den Adern heißes Blut

Als sie Cäsar einst tyrannisch reizte

Kochte es sofort in Siedeglut.

 

Nicht die Warnung konnte Cäsar hindern:

„Hüte vor des Märzen Iden Dich“.

Er verfolgte seine frechen Ziele

Und sah schon als Herrn der Römer sich.

 

Immer schlimmer schlug ihn die Verblendung

Nur sein Wort galt noch im Capitol

Und den weisen Rat der Senatoren

Schmähte er gemein und höhnisch Kohl.

 (Text: Georg Kaiser / Auszug) 

Kurt Weill ist beleidigt…

Alle seine Werke wurden von den Nazis verboten. Kurt Weill (1900-1950) wurde bedroht und emigrierte im März 1933 nach Paris… Am 26. November, während  eines Konzerts im Salle Pleyel, wo Auszüge aus Der Silbersee gespielt wurden, schrie der französische Komponist Florent Schmitt (1870-1058): „Lange lebe Adolf Hitler (1889-1945), Heil Hitler!“, unterstützt von einem großen Teil des Publikums. Die Pariser Zeitungen greifen Weill an, insbesondere Lucien Rebatet (1903-1972), der den jüdischen-deutschen Virus anprangert! Einige Wochen später verlässt Weill Europa für die Vereinigten Staaten von Amerika! Er sollte niemals mehr sein Heimatland betreten…

DER SILBERSEE - Kurt Weill _ TRAILER - youtube OPERA BALLET VLAANDEREN

Weill wurde 1900 in Dessau geboren und studierte an der Akademischen Musikhochschule in Berlin. Er folgte dem Unterricht von Ferruccio Busoni (1866-1924), was dazu führte: Dass er eine Leidenschaft für die Oper entwickelte! Er traf Bertolt Brecht (1898-1956) im Jahr 1927 und kreierte mit ihm den großen Welterfolg Die Dreigroschenoper, inspiriert von verschiedenen Formen der populären Musik, Jazz und Kabarett und natürlich The Beggar’s Opera (1728) von Johann Christoph Pepusch (1667-1752) und John Gay (1685-1732). Bestrebt, mit der Neo-Romantik zu brechen, engagierte er sich mit Brecht in der Gesellschafts-Kritik und schuf 1930 mit der Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny ein zweites großes Meisterwerk.

Als Hitler 1933 an die Macht kam, musste Weill, der jüdischer Herkunft war und auch großer Sympathisant des Kommunismus: Sein Land verlassen! Der Musiker floh nach Frankreich, bevor er in die USA ging und eine neue Karriere am Broadway begann mit Stücken wie Lady in the Dark (1941) oder Lost in the Stars (1949), die das Erbe der europäischen Oper mit dem Einfluss der amerikanischen Musik-Komödie vereinten. Als Autor zahlreicher Werke und Erbe der sogenannten „klassischen“ neuen deutschen Musik eines Gustav Mahler (1860-1911) oder Arnold Schönberg (1874-1951) hat Weill auch das amerikanische Repertoire mit zahlreichen Jazz-Standards und populären Songs bereichert. Er starb 1950 in New York an einem Herzinfarkt!

DER SILBERSEE - Szenenphoto @ Jean-Louis Fernandez

Die Realität holt die Fiktion ein…

Im Jahr 1932 begann Weill mit der Komposition seiner Oper Der Silbersee, die unter dem Deckmantel einer unwahrscheinlichen Fabel besser als jede andere den Geist einer sehr vergifteten Epoche darstellte… Weil er eine Ananas gestohlen hat, um seine Familie zu ernähren, wird der Proletarier Severin durch einen Schuss des Polizisten Olim schwer verletzt. Um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen, lädt dieser ihn in das Schloss am Silbersee ein, das er im Lotto gewonnen hat. Trotz der Versuche von Frau von Luber, der Gouvernante zwischen ihnen Hass zu schüren: Werden die beiden Männer Freunde! Der zugefrorene See zeigt einen möglichen Weg zum Licht! Aber im Schatten begann Hitler seinen unaufhaltsamen Aufstieg…

Vom Nazi-Regime als „musikalischer Bastard“ beschrieben, was uns im Nachhinein als Kompliment erscheint, liegt das Werk auf halbem Weg zwischen Oper und Kabarett. Die furchtbar einfallsreiche und teuflische Musik greift Formen wie die Kantate, das Lied, die Ballade oder auch das Oratorium frei auf: Fast ein Jahrhundert später rührt sie uns zu Tränen des Lachens und auch der Angst!

Ein nicht klassifizierbares Werk…

Es ist Februar 2033. Wir proben Der Silbersee, die antifaschistische Oper von Weill und Georg Kaiser (1878-1945), die hundert Jahre zuvor während des Dritten Reiches in Deutschland entstanden ist. Die politische Situation ähnelt der damaligen: Eine nationalistische Partei – Eiserne Front – scheint gut im Rennen zu sein, um die nächsten Wahlen, zu gewinnen. Im Jahr 1933, nachdem Hitler an die Macht gekommen war, überlebte die Oper noch einige Aufführungen, bevor sie abgesetzt wurde. Ebenso steht die aktuelle Produktion unter starkem Druck! Die Proben werden durch beleidigende Briefe und andere hetzerische Artikel in den Zeitungen unterbrochen. Trotz allem bleibt das künstlerische Team fest entschlossen, diese Adaptation bis zum Ende durchzuhalten: Die Geschichte des Polizisten Olim, der im Lotto ein Schloss gewinnt, bevor es ihm vom örtlichen Adel geraubt wird, erscheint uns wie eine furchterregende Parabel auf kommende Regime!

Als Severin und seine Freunde zu beginn des Stücks vom Hunger heimgesucht werden, versuchen sie ihre Halluzinationen zu bekämpfen, indem sie symbolisch die „Beerdigung des Hungers“ veranstalten. Dann werden wir Zeuge des Raubüberfalls auf ein Lebensmittelgeschäft, bei dem Severin eine Ananas stiehlt. Der deutsche Regisseur Ersan Mondtag (*1987) behauptet, eine Parallele zwischen dieser Szene und der Zerstörung der Umwelt auf globaler Ebene, dem Leben in den Slums und dem Aufstand gentechnisch veränderter Mutanten-Monster ziehen zu wollen. In den folgenden Szenen, während der direkten Konfrontation zwischen der Polizei und den Mitgliedern der Bande von Severin, beschließt das Künstlerteam eine explizitere Parallele zur aktuellen Situation zu ziehen. Als Polizist Olim, nachdem er Severin auf der Flucht angeschossen und verletzt hat und von Gewissensbissen geplagt wird, verändert sich die Einrichtung seines Büros, um auf den Konflikt im Nahen Osten zu verweisen. Ein Lotterie-Verkäufer verkündet Olim, dass er reich ist: Er hat das Schloss am Silbersee gewonnen!

DER SILBERSEE - Szenenphoto mit Inna Jeskova und Séverine Maquaire (Ananas-Verkauferinnen) @ Jean-Louis Fernandez

Die Drohungen gegen das Künstlerteam nehmen weiter zu. Der 2. Akt spielt in Olims Schloss. Der Polizist verließ seinen Dienst, um sich um den verletzten Severin zu kümmern und so sein schlechtes Gewissen zu beruhigen. Dieser Akt wird von den Sängern und Schauspielern als eine biblische Geschichte interpretiert: Vermischt mit zeitgenössischen Bezügen. Die Gouvernante Frau von Luber, die in Wirklichkeit dem Adel angehört, gelingt es durch die Naivität der beiden Protagonisten es auszunutzen, um sie um das Schlosses zu berauben. Die Aufführung verwandelt sich dann in ein sogenanntes „Leben der Märtyrer“ mit Hinweisen auf Christus und dem Heiligen Sebastian. Während sich eine aggressive Menschmenge vor dem Theater versammelt und mit gewaltsamen Zutritt droht: Genießt Frau von Luber ihren Sieg! Olim und Severin verlassen das Schloss: Die beiden Liebenden wollen ihr Leben beenden, indem sie sich im Der Silbersee ertrinken lassen! In dem Stück von Weill und Kaiser wurden sie von der Fee Fennimoore aufgehalten. Im Jahre 2033 vereitelt eine Gruppe von sturmtroopers ihre Pläne. Es bleibt auf jeden Fall ein neues Ende zu erfinden…

SILBERSEE - Szenenphoto mit Joël Terrin (Séverin), Eva Dodd (Fennimore) und Benny Claessens (Olim) @ Jean-Louis Fernandez

DER SILBERSEE - Aufführung - 14. April 2024 - l‘Opéra National de Lorraine, Nancy

Zwischen Dystopie und queerer Unterhaltung…

Selbst in Ländern, in denen die Demokratie geschmiedet wurde und durch Revolutionen zur Grundlage des Gesellschafts-Systems wurde, kommen immer mehr Politiker an die Macht, die die Prinzipien der demokratischen Kontrolle und des Schutzes der sozialen Vielfalt in Frage  stellen!

Die Oper Der Silbersee wurde gleichzeitig an drei deutschen Bühnen: Leipzig, Magdeburg und Erfurt  am 18. Februar 1933 uraufgeführt, nur wenige Tage nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler. Das Werk hat eine mehr als bewegende Geschichte und ein außergewöhnliches politisches Schicksal!

Da sie als entartete Oper galt, wurde sie verboten und ihre Partitur verbrannt. Der bereits als entartet eingestufte Komponist musste mit seinem Librettisten und Dichter Kaiser, desgleichen der Regisseur Detlef Sierk (1897-1987), der später unter dem Namen Douglas Sirk in Hollywood weltberühmt wurde, in die USA emigrieren. Leider konnte der Dirigent Gustav Brecher (1879-1940) nicht entkommen und beging gemeinsam mit seiner Frau Selbstmord, bevor er in die Hände der Gestapo fiel.

Die Produktion möchte an die Ereignisse rund um die Uraufführung von 1933 erinnern, sie mit aktuellen Ereignissen in Verbindung bringen und uns daran erinnern, dass Demokratie niemals erworben werden kann und eine Gesellschaft angesichts der durch Intoleranz, Radikalisierung und soziale Ungleichheiten geschaffenen Bedingungen nicht mehr genügend immun ist gegen einen autokratischen Wandel. Da im Grunde die meisten europäischen Länder offensichtlich noch nicht am Rande des Totalitarismus stehen, beschloss Mondtag, die Ereignisse in die Zukunft, ins Jahr 2033 zu verlegen und die Geschichte einer Theatergruppe hinzufügen, die Der Silbersee im Jahr 2033 aufführte. Eine Oper, die von der in der Zeit herrschenden rechtsradikalen Nationalisten Partei des anti-europäischen sozialistischen Propaganda beschuldigt wurde.

SILBERSEE - Szenenphoto mit James Kryshak (Lotterie-Verkaufer) und Solisten und Chor l'Opéra National de Lorraine @ Jean-Louis Fernandez

Während Weills Oper die Armen und Ausgestoßenen der Gesellschaft der herrschende Klasse entgegenstellte, soziale Ungerechtigkeiten und den Aufstieg der brutalen blutigen Hitler-Autokratie anprangerte, bezieht sich der Regisseur Mondtag in seiner Neu-Interpretation auf die Schäden des Kapitalismus, etwa die Umwelt-Verschmutzung in den benachteiligen Ländern und die Zerstörung von nicht verkauften Lebensmittel-Produkten. Auch nimmt er große Beziehung zum israelischen-palästinischen Krieg und schließlich zu der monströsen Gewalt und dem verlogenen Propaganda der chinesischen Diktatur.

Zu den von Kaiser erdachten Dialogen kommen weitere hinzu, manchmal auf Französisch, manchmal auf Englisch, inspiriert von verschiedenen Quellen wie Kommentaren von Zuschauern und Kritikern und Presseartikeln aus dem Jahr 1933. In diesem Meta-Theater liegt eine weitere Nebenhandlung zugrunde: Die der Beziehung zwischen Olim, dem reuigen Polizisten und Severin, dem von Rache besessenen Dieb, der hier aber zum Liebhaber wird!

Der Kontrast zwischen den beiden ist wirklich sehr gut gelungen: Olim wird von dem bekannten belgischen Volks-Schauspieler Benny Claessens gespielt und ist teilweise sehr übertrieben und ausufernd, während Severin leichter und diskreter ist. Der schweizerische Bariton Joël Terrin, der Letzteren spielt und singt, bietet eine elegante und berührende Gesangslinie: Besonders in der sogenannten Rache-Arie.

Interessant ist auch Fennimores Dichotomie: Da sich die Sopranistin wie eine Diva verhält und nur singen möchte, bietet der Regisseur eine zusätzliche Schauspielerin, die sich um den vorgetragenen Text zu kümmern hat. Trotz der körperlichen Unterschiede zwischen den beiden Interpreten gelingt die Verdoppelung dank der Talente von der englischen Sopranistin Ava Dodd, deren samtiger Ton und ihre Beherrschung des pianissimo hervorzuheben sind und auch die französischen Schauspielerin Anne-Élodie Sorlin, die es ebenso schafft, ihre Figur liebenswert zu machen und bringt das Publikum mit ihren Gags manchmal zum Lachen.

SILBERSEE - Szenenphoto mit Joël Terrin (Séverin), Nicola Beller Carbone (Frau von Luber), Ava Dodd (Fennimore) und Benny Claessens (Olim) ((c) Jean-Louis Fernandez

 Die deutsch-spanische Sopranistin Nicola Beller Carbone ist eine ausgezeichnete Frau von Luber, tyrannisch und giftig-böse gegenüber ihrer Nichte Fennimore, hinterlistig und berechnend gegenüber den „Neureichen“, aber auch schelmisch und lustig. Der amerikanische Tenor James Kryshak zeigt uns einen frechen und extravaganten Lotterie-Agenten, der als schlossförmiger Kiosk verkleidet ist und einer kitschigen mit Schlagsahne überzogenen Hochzeitstorte ähnelt. Desgleichen ist er auch ein anmaßender und abgestumpfter dummer Baron Laur.

Die weißrussische Sopranistin Inna Jeskova und die französische Altistin Séverine Maquaire spielen und singen die skrupellosen Ananas-(!!!)-Verkäuferinnen, deren Schönheit und Leichtigkeit der Stimmen im Kontrast zur Hässlichkeit der deformierten Körper von Mutanten stehen.

Die jungen Männer wurden wunderbar interpretiert von dem französischen Bariton Benjamin Colin, dem südkoreanischen Tenor Wook Kang, dem südkoreanischen Bass Yong Kim und dem südkoreanischen Tenor Ill Ju Lee. Der junge talentierte französische Schauspieler Janis Bouferrache interpretiert mit viel geschmeidiger Schauspielkunst einen Doktor, einen Dicken Gendarmen, einen Theater-Direktor und einen Schauspieler.

Hinter der Bühne und auf dem Balkon erweckt der Chor l’Opéra National de Lorraine unter der Leitung seines Chor-Direktors Guillaume Fauchère wahre Wunder, um das Gewissen von Olim überzeugend zum Leben zu erwecken.

Im Orchester-Graben beherrscht das Orchestre de l’Opéra de Lorraine die Poly-Rhythmik und die Bandbreite der Musikstile, die vom Melodrama bis zum Tango, von Marsch bis Walzer, vom Shimmy inspiriert durch den berühmten Tanz der Joséphine Baker (1906-1975) und die bis zur Moritat und Ballade reichen. Unter der dynamischen Leitung des jungen italienischen Dirigenten Gaetano Lo Coco ist Weills Musik der unbestrittene Protagonist des Abends.

Wenn die Idee, den Kontext der Entstehung der Oper besonders hervorzuheben und gleichzeitig ein Whistleblower über die diktatorischen Exzesse in der heutigen Gesellschaft zu sein, so sind doch die plötzlichen Veränderungen im Kontext (Umwelt-Apokalypse, Terrorismus, christliches Märtyrertum, pharaonische Monarchie und asiatische Diktatur) nicht immer sehr klar noch faszinierend. Die eingestreuten Rückbezüge in die „Gegenwart“ der Premiere von Der Silbersee reduzieren leider die Fließfähigkeit der Handlung.

Gleiches gilt für die Vielzahl heterogener nicht immer leicht zu identifizierender Bezüge, die von den Absichten des Komponisten und des Librettisten abweichen.

Doch das Publikum im Saal wird in den Bann gezogen, verführt von Weills „Singspiel“, von den phantastischen Darbietungen der Schauspieler und Sänger und natürlich auch vor allem von der wunderschönen rotierenden Szenografie. Es ist im Zeichen von The Show must go on!

 

Auch die Zuschauer sind oft überrascht von all der vielen bissigen und scharfen Ironie und brechen oft in Gelächter aus. Leider glauben wir trotz allem, das diese Produktion sehr viel von ihrer didaktischen und revolutionierenden Botschaft verloren hat. Leider müssen wir auch sehr laut sagen, dass es oft näher an einem billigen Vorstadt Guignol-Theater erinnerte als an ein frostkaltes erschauerndes Wintermärchen… (PMP/17.04.2024)

Anmerkungen: Siehe auch unser mehrteiliges IOCO-ESSAY: Kurt Weill – Von Dessau zum Broadway, link HIER!, und desgleichen auch unsere IOCO-KRITIKEN: Die Dreigroschenoper, link HIER!, und  Die sieben Todsünden, link HIER.

Auskünfte und Karten für l’Opéra National de Lorraine / Nancy: www.opera-national-lorraine.fr