Wuppertal, Oper Wuppertal, Surrogate Cities / Götterdämmerung, IOCO Kritik, 19.09.2017
Surrogate Cities / Götterdämmerung von Heiner Goebbels
Ruppig - Glattes Stadtleben: Goebbels, Wagner, Gospel
Von Viktor Jarosch
Die Oper Wuppertal zeigt mit Surrogate Cities / Götterdämmerung innovatives Musiktheater: Es verwebt in dem Stück glattes wie kantiges Alltagsleben einer Stadt mit der Sagenwelt Richard Wagners, um in groovigem Gospel spektakulär zu enden. Stampfende, stoßende Musik von Heiner Goebbels öffnet den Abend, wechselt zu Richard Wagners Götterdämmerung um sich in den lyrisch dramatischen Horatian Songs von Heiner Goebbels überraschend mit packender Synthese aufzulösen.
"Surrogate Cities hat den ambivalenten Charakter städtischen Lebens zum Thema; neben anregenden Themen auch das, was eine Großstadt mit seinen Widersprüchen nicht bieten kann. Es geht mir … darum, mit der glatten, abweisenden Oberflächlichkeit ... auch an tiefere Schichten von Stadtgeschichte zu kommen“, so Heiner Goebbels wenig konkret über sein Werk, welches er mit Dramaturgen, Bühnenbildnern, Lichtgestaltern, Sounddesignern umsetzt. Heiner Goebbels (*1952), Regisseur, Komponist und Professor für Angewandte Theaterwissenschaft, komponierte, produzierte Surrogate Cities 1994, zur 1200 – Jahrfeier Frankfurts. Inzwischen ist Surrogate Cities ist inzwischen ein herausragendes Werk postdramatischer Musik. 2014, zum Ende von Goebbels Amtszeit als Leiter der Ruhrtriennale, fand in Duisburg eine choreographisch-szenische Neuproduktion von Surrogate Cities Ruhr statt. Im Mai 2017 war Surrogate Cities bei den KunstFestSpielen Herrenhausen zu erleben.
Für die Oper Wuppertal verbindet der amerikanische Regisseur Jay Scheib das Werk von Heiner Goebbels mit Musik, Themen und Personen aus dem 3. Akt von Richard Wagners Götterdämmerung. Eine Verbindung, die Goebbels überraschend differenziert sieht: „Mich interessiert an Wagner eher seine Musik und weniger die Narrationen“. Jay Scheib dazu: „Städte geraten außer Kontrolle, werden kurzsichtig … Surrogate Cities verbinde ich mit einem Zustand der Ortslosigkeit ... öffnet eine Welt der Spekulation ohne Halt ... ist, wie Götterdämmerung, eine Fundgrube für Unterschiede, unangenehme Wahrheiten, Einsamkeit und der Innovation.“
Die schwer greifbare Einführung zu Surrogate Cities mag den Besucher noch verunsichern. Faszination, Spannung greift jedoch mit dem Betreten des Zuschauerraumes, mit dem ersten Blick auf die Bühne (Kathrin Wittig). Die Bühne, der Orchestergraben ist hoch gefahren, ist in drei Segmente geteilt: Das große, 80–köpfige Orchester ist geteilt: Vorne die Streicher und zwei Harfen; die Bläser und Schlagwerker im hinteren Teil der Bühne. In der Bühnenmitte, die beiden Orchesterteile trennend, ein fünf Meter breiter Streifen. Hier findet die Handlung statt: Links ein langer, festlich gedeckter Tisch, darunter eine Hochzeitstorte. Offensichtlich hatte eine Hochzeit, ein Fest stattgefunden. Rechts daneben eine kleine Kammer mit Sitzecke, Waschbecken, Dusche, Mikrowelle. Ein kleiner Monitor in der Kammer zeigt während der 2,5 stündige Aufführung in Endlosschleife einen fliegenden Raben. Zwei 10 x 4 Meter große Leinwände über und neben der Bühne kündigen Live-Video-Techniken an. Eine Frau (Hannah Usemann) bewegt sich während der Vorstellung mit großer Kamera auf der Bühne; filmt die Handlung und überträgt sie auf die großen Bildschirme. So pendelt, jagt der Blick des Besucher immer gebannt von Orchester oder Bühne oder Projektionen auf den Leinwänden. Unverstellt von gewohnten Ritualen (Dramaturgie Jana Beckmann).
Die gut sichtbaren Musiker wirken modern, sympathisch, werden Teil der Inszenierung, Teil der Festgesellschaft: Männer in gepflegten weißen Dinner-Jackets mit Fliege, Frauen in hellen Abendkleider. Sie beginnen den Surrogate Cities Abend mit stampfender Musik von Heiner Goebbels. Dann die Handlung: Ein Mann in Helm und verschmutzter Motorradkleidung betritt, frustriert, wütend wirkend die Bühne, geht in die kleine Kammer, sein Apartment. Er zieht Helm, Kluft und Kleidung aus, duscht sich, zieht sich wieder an. Dann wäscht er Hemd und Hose, steckt diese in einen Plastikbeutel: setzt vor seiner Kammer Blumen ein, findet dort in einem Schlammhäufchen ein Ring (erster, zarter Bezug zu Wagner), sucht in seinen Schallplatten, legt Rheingold auf. Das Orchester springt kurz von Goebbels Stakkati zum Reingold-Motiv. Eine Stimme: „Wer in einer Stadt lebt, sollte nichts für selbstverständlich nehmen.“ Als um seine Existenz kämpfender Städter wird in so Wuppertal in dunkler Kleidung als Hagen (Lucia Lucas) wahrnehmbar; er nimmt einen Speer von der Wand.. In den benachbarten Festraum „schwebt“ nun in elegantem Abendkleid eine sichtbar von Albträumen geplagt wirkende junge „Lady“, in den benachbarten Festraum. Sie betrachtet ein Schwert welches an der Wand hängt. Dazu die Stimme: „Sie ist gerannt! Warum? Wenn du rennst, siehst du aus wie....!“ Festgäste, Choristen in weißen Anzügen. Trommelwirbel, vielschichtige Klangbilder Heiner Goebbels wie Projektionen machen Frust, seelische Zerrissenheit sichtbar. Die Live-Kamera überträgt Mimik, Sandhäufchen, Frust oder Akteure; wirft alles vergrößert auf die riesigen Leinwände. Städtischer Alltagsfrust wird in lebendiger Dramatik sichtbar.
Doch nun wird die Sagenwelt Wagners deutlich: Die Rheintöchter (Woglinde Ralitsa Ralinova, Wellgunde Liliana de Sousa, Floßhilde Arina Lucas) erscheinen als verarmte Stadtbewohner. Mit abgebrochenen Zähnen und in billig wirkender Goldlametta-Kleidung, Zigarette in der Hand, suchen sie den Festraum offensichtlich nach Mitnehmbarem ab, lyrisch verzweifelt singend: „Rheingold! Klares Gold! Wie hell du uns einstens strahlest, hehrer Stern der Tiefe!“ Endgültig mitreißend wird Wagners Götterdämmerung als Siegfried (Ronald Samm, Foto) in der Festgesellschaft von Surrogate Cities ankommt. Siegfried begegnet den Rheintöchtern (Wellgunde „Ein goldner Ring ragt dir am Finger..“) mit heldisch starkem Tenor und prächtiger Präsenz packend und durchgehend sicher: „Denn giert ihr nach dem Ring, euch Nickern geb ich ihn nie!“
Götterdämmerung, die Komposition Wagners und ein starkes Ensemble bestimmen nun musikalisch. Johannes Prell führt das Sinfonieorchester Wuppertal in nicht erwartete Sinnlichkeit, gibt ihm und dem Ensemble Raum für Gestaltung und Dramatik. Hagen (Lucia Lucas) mit mächtigem Bariton lebt in seiner Partie: „So singe, Held!“; Siegfried reißt mit, sorgt für Staunen: „Mime hieß ein mürrischer Zwerg, in des Neides Zwang zog er mich auf..“. Das junge Ensemble und Orchester machen Surrogate Cities zu einem in dieser Kraft unerwarteten Stimmfest, alle Partien sind blendend besetzt: Annemarie Kremer als Brünnhilde mit leuchtendem Sopran, Jenna Siladie als Gutrune in wunderbarer Lyrik und Sebastian Campione als Gunther, wenn er mit viel Präsenz auf der Riesenleinwand und gut sitzender Stimme wenigstens etwas Mitgefühl für den sterbenden Siegfried ausdrückt. Siegfried stirbt ermordet unübersehbar auf dem Festtisch. Doch die Festgesellschaft feiert, mit Champagner, in weißen Smoking. Die Live-Kamera zeigt dazu statisch eine umgefallene Kaffeetasse auf der riesigen Leinwand. Die Feiernden interessiert Sterben und Kämpfen nicht; gelangweilt schlendern sie am toten Siegfried vorbei nach draußen. Pause.
Surrogate Cities / Götterdämmerung verläuft auch weiterhin faszinierend wie überraschend: Die Rheintöchter töten Wagner-treu Hagen, entreißen ihm den Ring, die letzten zarten Töne der Götterdämmerung erklingen. Die Bühne leert sich, auf der Leinwand die Musiker in ihren weißen Gewändern. Stille, Ende? Das Publikum möchte klatschen, doch, Musik von Heiner Goebbels erklingt wieder. Die amerikanische Soul- und Gospelsängerin Elisabeth King erscheint und singt in coolem Outfit und mächtigem, unter die Haut gehendem Timbre (man glaubt Mahalia Jackson zu hören) die von Heiner Goebbels komponierte Parabel aus der römisch antiken Welt, die Three Horatian Songs. Surrogate Cities schließt in dieser Parabel einen Kreis der zeigt, auch in einem Leben voller Oberflächlichkeit und Unrecht bestehen die universalen ethischen Grundsätze der Menschheit. Auch wenn man sie nicht immer sieht oder umsetzt.
Surrogate Cities / Götterdämmerung ist eine ungewöhnliche Produktion der Oper Wuppertal. Mut und Können beweist Intendant Berthold Schneider, ein solch komplexes, schwer umsetzbares Stück auf den Spielplan seines Hauses zu setzen. Nicht nur IOCO war begeistert über das von Jay Scheib umgesetzte Werk. Auch das Publikum feierte Surrogate Cities / Götterdämmerung, Inszenierung, Ensemble und Orchester ausgiebig und lautstark.
Surrogate Cities / Götterdämmerung an der Oper Wuppertal: Weitere Vorstellungen 1.10.2017, 14.10.2017